Rede von Sigmar Gabriel bei der Veranstaltung „20 Jahre Vereinigung der SPD in Ost und West“ am 25.09.2010

Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Sigmar Gabriel bei der Veranstaltung „20 Jahre Vereinigung der SPD in Ost und West“

am Samstag, dem 25. September 2010,
in der STATION, Berlin

– Es gilt das gesprochene Wort –
– Sperrfrist Redebeginn

Am 27. September 1990, fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren, schlossen sich die SPD Ost und West in Berlin zu einer gemeinsam Partei zusammen. Daran wollen wir heute, am Vortage unseres Parteitages in Berlin, erinnern. Ich darf Sie ganz herzlich zu dieser Veranstaltung begrüßen!

Wir wollen heute Rückschau halten: auf das Wirken derer, die damals aus zwei sehr unterschiedlichen sozialdemokratischen Parteien erfolgreich eine gemeinsame gemacht haben.

Und wir wollen zurück blicken darauf, was in den zwanzig Jahren seit der Vereinigung in der SPD, und, oft auf Initiative der SPD, in Deutschland neu gewachsen und entstanden ist.

Ich freue mich ganz besonders, dass die beiden damaligen Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel und Wolfgang Thierse zu uns sprechen werden. Ich darf Euch beide ganz herzlich begrüßen!
Hans-Jochen Vogel und Wolfgang Thierse sprechen stellvertretend für die vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die damals in einer historisch einmaligen Situation SPD-Ost und SPD-West zu einer Sozialdemokratie für ganz Deutschland vereinten.

Willy Brandt als Wegbereiter der Einheit
Mit großem Stolz und Dankbarkeit denken wir heute natürlich an unseren Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, der uns mit seinen Worten auf dem Parteitag von 1990 sozusagen das Geleit gegeben hat.

In seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender 1987 hat er einen der Werte der SPD ins Zentrum seines Denkens und Handelns gestellt:
„Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit.“
Ihre Freiheit haben die damaligen Bürger der DDR mit einer friedlichen Revolution errungen. 1989 und 1990 regierten in Westdeutschland Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Sie haben die historische Stunde mutig genutzt, als sie da war. Das bleibt ihr historischer Verdienst, den auch wir als Sozialdemokraten natürlich anerkennen und dankbar dafür sind. Die politische Voraussetzung dafür war allerdings, dass Helmut Kohl seit 1982 im Kanzleramt die sozialdemokratische Entspannungspolitik von Willy
Brandt, Egon Bahr und Helmut Schmidt fortsetzte. Gegen manchen Widerstand in seiner Partei, in der ja noch 1990 einige über die Revision der polnischen Westgrenze laut nachdachten.

In diesem Jahr feiern wir nicht nur 20 Jahre deutsche Einheit, sondern auch der Moskauer Vertrag und der Warschauer Vertrag jähren sich zum 40. Mal. Kein anderes Zeichen symbolisiert so sehr den Aufbruch zu Entspannung, Abrüstung und Frieden mit Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, wie der Kniefall Willy Brandts vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos. Wir Sozialdemokraten wissen: Es war Willy Brandts Entspannungspolitik – als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und schließlich als Kanzler
der Ostpolitik –, die den Weg zur Einheit vorbereitet hat, in dem er auch in Osteuropa und der damaligen Sowjetunion das Vertrauen in ein friedfertiges und demokratisches Deutschland wachsen ließ.

Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der DDR waren die ersten, die mit einer unabhängigen Partei die SED-Diktatur herausgefordert haben.

Freiheit und Gerechtigkeit
Die SPD wollte ein vereintes Deutschland, das den wirtschaftlichen Wandel nicht den ungebremsten Marktkräften überlässt. Sie hat sich vor 20 Jahren oft die deutsche Einheit anders vorgestellt als die damalige Bundesregierung. Sie hat sich damals mehr Realitätssinn gewünscht, statt sich in der Beschwörung von „blühenden Landschaften“ zu verlieren.

Sie wollte ein Land, das mehr Rücksicht auf die Arbeitsplätze in der ehemaligen DDR nimmt, statt erst die Firmen in die Pleite und dann die Menschen in die Arbeitslosigkeit oder die Frühverrentung zu schicken.

Ob es dazu damals wirklich eine realistische wirtschaftliche Alternative zum schnellen Beitritt in das Geltungsgebiet des Grundgesetzes gab, ist rückblickend schwer zu beurteilen. Eines ist allerdings sicher: jede Last, die wir seither zu tragen hatten, war weitaus leichter als die Last der deutschen Teilung und der Unterdrückung und Unfreiheit von Millionen Menschen in der ehemaligen DDR. Die deutsche Einheit ist und bleibt eines der wirklich glücklichen und gelungenen Ereignisse in der deutschen
Geschichte.

Viele von denen, die heute hier sind, waren vor 20 Jahren dabei. Beim Vereinigungsparteitag, aber auch in den Monaten davor. Ich habe mir erzählen lassen, dass bei den ersten Begegnungen von ostdeutschen und westdeutschen Sozialdemokraten verschiedene Welten aufeinander stießen. Und ich meine nicht nur die Bärte …
Da kamen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus Ostdeutschland in die Baracke nach Bonn, die gerade eine Diktatur herausforderten.

In Schwante im Oktober 1989 eine Sozialdemokratische Partei zu gründen, das zielte direkt auf das Machtmonopol der SED. Das war eine mutige Tat, denn die Gründer der SDP riskierten weit mehr als das je im westlichen Teil Deutschlands nötig war.
Es waren Sozialdemokraten, die als erste die SED offen mit einer Parteigründung herausforderten, als viele Mitglieder von Blockparteien noch vorsichtig abwarteten, von wo der Wind weht.
Dieser Mut der Sozialdemokraten in der damaligen DDR zeigte, wie tief die fast 150 jährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie mit dem Willen zur Freiheit verbunden ist. Wie heißt es auf den alten Gobelins mit dem Bild von August Bebel und Wilhelm Liebknecht: „Nicht betteln, nicht bitten, nur mutig gestritten. Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht.“ Besser kann man das Motto der Sozialdemokraten in der DDR nicht ausdrücken. Ihre Leistungen gehören zum Besten, was die
gesamtdeutsche SPD in der Nachkriegszeit zu bieten hat.
Die ostdeutschen Sozialdemokraten trafen Vertreter einer SPD in Westdeutschland, die – seien wir ehrlich – nicht vorbereitet waren auf das Ende der DDR. Damit stand die SPD übrigens nicht allein. Der Aufstand der Bürgerinnen und Bürger in der DDR und der Zusammenbruch des SED-Regimes haben alle überrascht, nicht zuletzt auch die damalige Bundesregierung.
Ich war 1989 nicht in der Parteizentrale, als die ersten Abgesandten aus der Welt hinter der Mauer dort eintrafen. Aber die, die dabei waren, erzählen viel von diesen ersten Begegnungen. Das war ein vorsichtiges Beschnuppern, denn die Geschichte war ja noch offen.

Bei den Westdeutschen überwog erst einmal die Vorsicht, denn keiner wusste ja zunächst, welche Folgen das eigene Handeln haben könnte.

Ich will noch einmal daran erinnern: Die Teilung Deutschlands war das Ergebnis des grausamen Zweiten Weltkriegs, dem eine mörderische, unmenschliche, faschistische Diktatur voraus ging und der eine Teilung Europas folgte. Genau deshalb war der Zusammenbruch der DDR auch kein rein deutsches Ereignis.

Deutschland in Europa
Er betraf ganz Europa. Die Mauer war auch die Nahtstelle zweier hochgerüsteter politischer Systeme.

Willy Brandt hat es schon 1966 treffend gesagt:
„Es gibt keinen Weg nach Deutschland, der an Europa vorbeiführt.“
Das galt erst recht in der großen Umbruchsituation der Jahre 1989 und 1990. Ich will das in Erinnerung rufen, damit eines nicht in Vergessenheit gerät:
Das Lob und auch unser Dank gebühren zuerst den Menschen, die in Polen und Ungarn und dann in der DDR Freiheit und Demokratie gefordert haben. Die nationale Einheit wurde erst durch den Erfolg der demokratischen Bewegung möglich.
Manchmal wird der SPD noch heute mangelnde Begeisterung bei der Vereinigung vorgeworfen. Ich kann das aus meiner Erfahrung überhaupt nicht bestätigen. Ich war damals junger Landtagsabgeordneter in Niedersachsen, aufgewachsen direkt an der früheren Zonengrenze. Ich kann mich an nichts erinnern, was in meinem politischen Leben und dem von tausenden von Sozialdemokraten in Westdeutschland soviel Begeisterung ausgelöst hat wie die Grenzöffnung 1989. Und natürlich waren wir fast jeden Tag unterwegs, um
SPD-Ortsvereine auf der anderen Seite der geöffneten Grenze zu gründen und zu unterstützen. Und für uns war schon wenige Wochen nach dem 9. November klar: die Einheit Deutschlands ist das, was jetzt kommen muss.

Wir haben aber auch sofort gemerkt: Diejenigen, die die SPD in der DDR gegründet hatten, waren im Widerstand gegen die DDR und ihre Führung vereint. Sie waren nicht in die Nationale Front der Deutschen Demokratischen Republik eingereiht. Sondern viele, die wir damals trafen, wurden nach der Zwangsvereinigung in der DDR verfolgt und konnten sich deshalb eine Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder in die neu gegründete Partei nicht vorstellen!

Nicht wenige spekulieren ja heute gelegentlich darüber, ob es nicht besser gewesen wäre, diese Öffnung zu den Kadern der alten SED zuzulassen, um damit z.B. eine SED-Nachfolgeorganisation zu verhindern oder doch möglichst klein zu halten.

Mal ganz abgesehen davon, dass ich mir in etwa vorstellen kann, welche politische Treibjagd auf die SPD in ganz Deutschland durch CDU/CSU und FDP begonnen hätte: Es hätte eine enorme Zerreißprobe für die neu gegründete Sozialdemokratie bedeutet. Diejenigen, die ich in der Gründungsphase der Sozialdemokratie 1989 und 1990 kennen gelernt habe, hätten das zum weit überwiegenden Teil als Verrat empfunden und ihre Arbeit in der SPD beendet.

Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben im Osten und im Westen Entscheidendes zum Gelingen der friedlichen Revolution beigetragen: In der DDR waren sie Teil der Oppositionsbewegung, im Westen hat die Ostpolitik der SPD aus Deutschland „ein Volk der guten Nachbarn“ gemacht.

Aus der anfänglichen Unsicherheit wurde bei den westdeutschen Sozialdemokraten schnell Solidarität. Ich will hier aus einem Beschluss des SPD-Präsidiums zitieren, der nach den ersten Kontakten mit den ostdeutschen Sozialdemokraten am 9. Oktober 1989 gefasst wurde – einen Monat vor dem Fall der Mauer:

„Angesichts der Gründung einer „Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP)“ begrüßen wir, daß in der DDR immer mehr Menschen ihre Stimme erheben, die sich ausdrücklich zur Friedenssicherung und den übrigen Prinzipien des demokratischen Sozialismus bekennen und dafür eintreten, diese Prinzipien in der DDR zu verwirklichen. Sie haben das aus eigenem Entschluß getan.
Wir erklären uns mit ihnen solidarisch und ermutigen sie – ganz gleich in welchen Gruppen oder Formen sie sich zusammenfinden oder organisieren. Die volle Entfaltung der Demokratie und des Pluralismus ist jedenfalls ohne eine starke Sozialdemokratie nicht denkbar.“
Das hat bei den Gründern der ostdeutschen SPD das Vertrauen gestärkt, von den Genossinnen und Genossen im Westen nicht allein gelassen zu werden.

Der Beitrag der Menschen zur friedlichen Revolution
Wir erleben in diesem Herbst, wie mit wachsendem zeitlichem Abstand der Beitrag der DDR-Bürger zur Revolution in ihrem eigenen Land aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt wird.

Gerade das demokratische Erbe der friedlichen Revolution darf aber nicht in Vergessenheit geraten! Es darf nicht sein, dass unsere Kinder irgendwann glauben, die Einheit verdanke Deutschland allein den Herren Kohl, Bush, Genscher und Gorbatschow.
Ich sage das, ohne die Verdienste dieser Männer schmälern zu wollen. Aber vergessen werden darf eben nicht der Mut der Vielen in Leipzig und anderswo. Der Mut der Vielen, die sich der bewaffneten Polizei und den Stasi-Truppen entgegenstellten und nicht wussten, ob das gewaltfrei ausgeht.

Und vergessen werden darf auch nicht, dass nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft an fast allen Orten der DDR Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen haben. Ich will hier nur die „Runden Tische“ erwähnen, die es an fast allen Orten gab. Ich gebe zu: ich habe damals oft gebannt die Berichterstattung von den runden Tischen oder aus der ersten demokratisch gewählten Volkskammer verfolgt und mir gewünscht, etwas aus dieser unverkrampften Freude am Parlamentarismus hätte sich auch in
der Alltag bundesdeutscher Parlamente herüber gerettet.

Da ging es um vieles, was zur Tradition der sozialen Demokratie zählt. Vor allem anderen: Freiheit, gesicherte Bürgerrechte, auch soziale Bürgerrechte, und soziale Gerechtigkeit.
Für mich war das, was in den Jahren 1989 und 1990 in der DDR passierte, eine Revolution für die Freiheit. Die Chance, die der langsame Niedergang der DDR bot, haben einige Mutige ergriffen. Dann folgten immer mehr Menschen, die Freiheit wollten. Freiheit, Demokratie, und gewiss: auch ein gutes Leben!

Anders wäre die deutsche Einheit auch nicht zu schaffen gewesen gegen die Widerstände im Osten und im Westen. Es war eine demokratische Bewegung, die das Misstrauen gegen ein vereintes, vergrößertes Deutschland überwunden und Armeen buchstäblich entwaffnet hat. Keiner Regierung wäre dies allein gelungen!

Die ostdeutsche Sozialdemokratie, die sich im September 1990 mit der SPD in Westdeutschland zusammenschloss, war ein Teil dieser Revolution. Das waren keine Blockflöten, die Mitgliederkartei, Immobilien und Vermögen aus 40 Jahren Nationaler Front in die Vereinigung einbrachten.
Wolfgang Thierse hat in seiner Rede auf dem Vereinigungsparteitag 1990 formuliert, was die Ostdeutschen in die Einheit und die geeinte SPD einbringen:

„Wir selbst, also Menschen, kommen mit unseren Erfahrungen und unseren individuellen Biographien, unseren Hoffnungen und Ängsten, unserem Wissen und Können, unserem Fleiß und unserem hilflos guten Willen. Ich denke nicht, dass wir aus der DDR mit gesenktem Haupt, also demütig, in die deutsche Einheit gehen müssten.“
Nein, Ihr musstet nicht demütig sein. Ihr habt die erste erfolgreiche demokratische Revolution in Deutschland vollendet. Auf friedliche Weise! Auch daran wollen wir heute erinnern!
Ihr wart von Beginn an und Ihr seid eine Bereicherung für unsere Partei und auch für unser Land! Diese Tat wird in Zukunft ebenso zum festen Erbe der SPD zählen wie die Geburtsorte der Sozialdemokratie in Sachsen und Thüringen.
Die Mitbegründer der ostdeutschen Sozialdemokratie – und ich nenne hier stellvertretend für viele andere nur Markus Meckel, Christine Bergmann, Martin Gutzeit oder Regine Hildebrandt – haben der sozialen Demokratie in Deutschland mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement einen großen Dienst erwiesen.

20 Jahre Vereinigung: Fortschritt und Enttäuschungen
Dass wir Deutschen die Einheit unseres Landes in Freiheit und Frieden mit unseren Nachbarn erreicht haben, ist ein Grund zu bleibender Freude und Dankbarkeit. Aber Hans-Jochen Vogel hat – ohne diese Freude zu schmälern – schon beim Vereinigungsparteitag 1990 auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen:
„Künftig wird aber nicht mehr gefragt werden, ob das, was bei uns geschieht, besser ist als drüben, sondern ob es gut ist, ob es auf Dauer zu verantworten ist, ökologisch und sozial vor allem.“
Ich bin mir sicher, dass Hans-Jochen Vogel zustimmen wird, wenn ich sage, dass nicht alles gut geworden ist. Ich bin überzeugt, dass die meisten die Freiheit schätzen, die sie gewonnen haben. Und ich spreche hier nicht nur von der Reisefreiheit!

Das alte Überwachungs- und Gängelungssystem der DDR will niemand zurück. Aber es hilft vielen Menschen nicht, dass es heute besser ist, als es in der DDR war. Die Frage von Hans-Jochen Vogel war ja: Ist es gut?
Manche hier wissen vielleicht, dass ich inzwischen so eine Art Beute-Ossi geworden bin mit Zweitwohnsitz in Magdeburg. Das führt dazu, dass man ältere und vor allem auch jüngere Menschen kennenlernt, die in der DDR aufgewachsen sind oder doch ihre Kindheit dort verbracht haben. Was ich dort häufig erlebe ist großes regionales Selbstbewusstsein. Es erwächst meist aus großer persönlicher und beruflicher Leistung, aber auch aus einer ganz eigenen ostdeutschen Biografie. Das gilt durchaus auch für
Jüngere. Und es ist nicht selten gepaart mit Distanz zu manchem aus Westdeutschland, das als überheblich und bevormundend empfunden wird. Der Abriss von fünf fürchterlich aussehenden Hochhausscheiben in Halle, in denen seit Jahren niemand mehr wohnt und auch in Zukunft niemand mehr wohnen kann, wird z.B. öffentlich als Versuch der Westdeutschen bezeichnet, die letzten Reste der DDR-Architektur zu tilgen.

Respekt und Anerkennung
Wir dürfen nicht vergessen: Dem Osten wurde nach der Vereinigung ein harter Transformationsprozess zugemutet, der noch nicht zu Ende ist. Das hat das tägliche Leben jedes Einzelnen dort natürlich verändert. Viele Menschen im Osten hatten und haben manchmal noch heute das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein.
Es gab westdeutschen Hochmut, es gab Raubrittertum und es sind nicht immer die Besten zum Aufbau Ost gekommen.
Und es gab auch einen Mangel an Respekt gegenüber der Leistung und Erfahrung der Ostdeutschen, der bis heute bei vielen nachwirkt. Hier bleibt also noch einiges zu tun!

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Lebensleistung der in Ostdeutschland aufgewachsenen Menschen deutlich mehr wertschätzen. Auch öffentlich. Sie haben nicht nur die Einheit herbeigeführt, sie haben vor allem vor und nach der deutschen Einheit weit mehr Belastungen ertragen müssen, als wir uns als westdeutsche Politiker jemals getraut hätten, unserer westdeutschen Bevölkerung zuzumuten.

Im Durchschnitt geht es den Menschen in Deutschland materiell besser als 1989, auch im Osten. Wir finden überall in der ehemaligen DDR Beispiele für die enorme Tatkraft, mit der Menschen dort den Wandel angepackt haben: Auch in Ostdeutschland ist eine vielfältige mittelständische Wirtschaft entstanden. Ihr Spektrum reicht vom expandierenden Eissalon in Rheinsberg bis hin zum weltgrößten Hersteller von Solarpanels in Bitterfeld. Und Mecklenburg-Vorpommern ist eine der beliebtesten Urlaubsregionen für
ganz Deutschland.
Und dass die Wachstumsdynamik in den ostdeutschen Ländern und besonders in Brandenburg nach der Krise im letzten Jahr besonders stark ist, kann uns gemeinsam freuen!
Ich kann die Liste von Erfolgen in Ostdeutschland fortsetzen: Die Infrastruktur ist in einem guten Zustand. Die Innenstädte in der ehemaligen DDR sind heute wieder bewohnbar. Der Raubbau an der Umwelt ist beendet worden. In Flüssen und Seen steckt wieder Leben. Auch die Industrien sind heute beispielhaft sauber.

Und glauben Sie mir: Das liegt nicht nur daran, dass so viele Industriestandorte dicht gemacht haben. Heute ist Ostdeutschland ein Zentrum von Umwelttechnik und erneuerbaren Energien. Die Hochschulen in Ostdeutschland sind Spitze. Und wie selbstverständlich studieren heute junge Menschen aus allen Teilen Deutschlands, aber auch aus vielen Ländern Europas dort. Das alles, finde ich, ist ein großer Fortschritt. Und das ist auch gut, um das Wort von Hans-Jochen Vogel aufzunehmen.

Wenn wir heute zurückblicken auf zwanzig Jahre deutscher Einheit, dann ragt die Leistung der Menschen in Ostdeutschland beim Umgang mit einem in der Geschichte einmaligen Umbruch heraus. In Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen: Um die Leistungen, die dort erbracht wurden, beneidet uns die ganze Welt!

Zwei Dinge höre ich immer wieder, wenn ich mit Menschen in Ostdeutschland spreche: Es geht um fehlende Arbeit. Und es geht um das weit verbreitete Gefühl fehlender Anerkennung, und damit nur Bürger zweiter Klasse im vereinten Deutschland zu sein. Ob das berechtigte Gefühle sind, spielt hier keine Rolle. Sie sind einfach da. Und wir, die wir in der Politik tätig sind, müssen damit umgehen.
Klar ist: Menschen, die keine oder keine befriedigende Arbeit haben, nehmen immer weniger teil am öffentlichen Leben. Im Osten Deutschlands ist das zum Lebensgefühl ganzer Regionen geworden.

Ich höre dann oft Sätze wie: „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ Aber ist wirklich jede Arbeit besser als gar keine Arbeit? Das kann nur jemand sagen, der einen befriedigenden Beruf ausübt. Sage ich das Jemandem, der früher Werksschlosser war und heute von der Arbeitsagentur Gelegenheitsjobs vermittelt bekommt, wird ihm das wie Hohn in den Ohren klingen.
Dieser Unterschied in der Wahrnehmung zwischen den sogenannten Eliten und vielen Betroffenen hat zu einem tiefgreifenden Entfremdungsprozess zwischen Regierenden und Regierten geführt. Diese Entwicklung dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.

In ehemaligen Industriegebieten, auch in der ehemaligen DDR, hat Arbeit die persönliche Identität begründet. Im Osten ist das 1990 auf einen Schlag weggebrochen. Wir müssen uns darüber klar sein, dass geringfügige Beschäftigung gerade die Menschen, die einmal einen qualifizierten Beruf ausgeübt haben, besonders hart trifft. Deshalb dürfen diese Beschäftigungsformen keine Dauerlösung, sondern nur Ein- und Aufstiegshilfe sein.
Für mich ist das der Schlüssel zur tatsächlichen Einheit Deutschlands: Gute Arbeit! Ich bin überzeugt: Wir sind und wir brauchen eine Arbeitsgesellschaft und keine Welt, in der Arbeitslosigkeit und eine bedingungs- und anspruchslose Grundsicherung der Normalfall sind.

Die Menschen brauchen neue Sicherheiten
Die Realität Deutschlands für immer mehr Menschen ist doch: Sie erleben eine Gesellschaft, die Einstieg und Aufstieg viel zu oft blockiert. Eine Gesellschaft, die Lasten und Chancen unfair verteilt. Eine Gesellschaft, die Sicherheiten nimmt, weil sie Unsicherheit als Anstoß für Leistung nutzen will. Genau das meinen doch die Marktradikalen, wenn sie von Anreizen sprechen.
Zu viele Menschen in unserem Land – im Osten wie im Westen – leben heute in Unsicherheit über ihre Zukunft und in der Sorge, dass sie von Abstieg bedroht sind. Ihnen müssen wir neue Sicherheit geben.

Krise und berechtigte Kritik
Wer sich wirtschaftlich abgehängt fühlt, verliert schnell den Glauben an echte Teilhabe.
Sozialdemokraten haben schon 1990 ein anderes Denken angeregt.
Markus Meckel hat bei der Gründung der SDP in Schwante eine „programmatische Erklärung“ vorgetragen. Er begründete darin, warum man eine sozialdemokratische Partei gründen wollte.
„Mit der Wahl dieses Namens [Sozialdemokratische Partei in der DDR] stellen wir uns bewußt in eine alte Tradition. Der Grundcharakter der deutschen Sozialdemokratie war von Anfang an das Eintreten für die Benachteiligten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozess … Dabei war der Ansatz von vornherein nicht paternalistisch, sondern lag in der Mobilisierung der Betroffenen, die in der SPD zum Subjekt ihres eigenen Befreiungskampfes wurden.“
Lieber Markus, der Inhalt Eurer Erklärung ist aber weiter noch aktuell!
Von heute aus gesehen steckt scharfe Kritik an den Umständen des Beitritts in diesen Sätzen. Wir haben in den letzten Tagen gesehen, dass mit diesen Sätzen ein wunder Punkt berührt wird. Als Matthias Platzeck das Wort vom Anschluss für die Umstände der Vereinigung benutzt hat, gab es einen Aufschrei – vor allem bei den Konservativen!
Ich fand es ehrlich gesagt befreiend, dass über die unterschiedlichen Wahrnehmungen der deutschen Einheit mal offen diskutiert werden kann. Es geht ja nicht um eine Kritik an der Einheit, sondern eigentlich um die Frage, wie wir uns mit größerem Respekt und größerer Achtung begegnen. Das wird uns allen gut tun.

Freiheit und demokratische Teilhabe
Zwanzig Jahre deutsche Einheit, zwanzig Jahre einer vereinten SPD: Ich sehe darin einen Anlass zu erinnern, dass Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar und erlebbar sein muss. Konkret, in ihrem täglichen Leben. Demokratie muss wieder zu einer Erfolgsgeschichte werden für die Vielen.
Der Krise des Denkens nach der Krise der Finanzmärkte können wir begegnen mit dem Hinweis auf die große Kraft, die in demokratischen Bewegungen steckt. Das ist der optimistische Kern der Revolution von 1989/90. Und darin liegt für mich die Zuversicht bezogen auf die gemeinsame Zukunft!
Gesetzmäßigkeiten der Geschichte gibt es nicht. Die Zukunft ist offen. Gemeinsam, solidarisch, können Menschen die Dinge zum Besseren wenden. Das ist eine zutiefst sozialdemokratische Botschaft. Und eine Ermutigung, weiterzuarbeiten für eine starke SPD in Ost und West, die sich der Freiheit zuerst verpflichtet fühlt.
Zu dieser Freiheit gehören gute Arbeit und die demokratische Teilhabe. Chancengleichheit gehört dazu. Ebenso Respekt und Anerkennung für jeden Einzelnen. Diese Freiheit steht jedem Bürger und jeder Bürgerin in Deutschland zu, gleich, in welchem Teil des Landes er oder sie lebt.

Freiheit muss heute überall in Deutschland durchgesetzt werden gegen die, die glauben, dass ihre Freiheit des Gewinnstrebens über allen anderen Formen der Freiheit steht.
Seit 1989 beweisen die Menschen auch in Ostdeutschland, dass sie die Kraft und die Fähigkeit besitzen, die Verhältnisse zu verändern und ihr Leben und ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.

Trauen wir es ihnen und uns endlich zu! Arbeiten wir zusammen, damit wir das, was uns vielleicht noch trennt in unseren Köpfen, dauerhaft überwinden können. Und damit es nicht nur besser ist als früher, sondern auch wirklich gut!
Ich danke Euch und Ihnen für die Aufmerksamkeit!

Sozialdemokratische Partei Deutschlands
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