Nitschewo – Intermezzo in Russisch

Nitschewo – Intermezzo in Russisch

(NL/1140358594) Wenn wir einmal unmittelbar vom russischen Menschen ausgehen wollen, dann erfassen wir sein Wesen an einem Zipfel, indem wir auf die Nuancen lauschen, mit denen er ein einziges dreisilbiges Wort hervorbringt, das Zauberwort n’itsch’ewó.
Lexikalisch übersetzt, bedeutet es einfach „nichts“, und es ist sogar dem deutschen nicht (aus ni-wiht) und dem italienischen niente (ni-ente) im Aufbau verwandt. Aber mit dem n’itsch’ewó lassen sich, was die Bedeutung betrifft, Dinge sagen, denen gegenüber das „nichts“ wie das niente und die meisten ihrer europäischen Geschwister verstummen müssen. Es ist eben ein kleiner Proteus, ein Verwandlungskünstler unter den Wörtern.
Nehmen wir an, ein Lehrling in einer Schreinerwerkstatt zeigt seinem Meister das erste selbstverfertigte Tischchen oder einen Hocker. Die Arbeit ist alles weniger als vollkommen, aber doch schon ganz brav. Der Meister klopft dem Buben ermunternd auf die Schulter und sagt, mit einer deutlichen Dehnung des auslautenden o, Nu – n’itsch’ewo(ooo). Hier ist ein Lob eingekleidet. Was eigentlich gesagt werden soll, ist: für den Anfang schon recht ordentlich, recht hübsch. Der Lehrling wird sich Mut heraushören dürfen aus diesem nitschewo.
Eine etwas andere Urteilsnuance entsteht, wenn das n’itsch’ewó mit dem Dativ des reflexiven persönlichen Fürwortes „sich“ verbunden wird, mit dem ss’eb’é. Ganz üblich ist diese Zusammenstellung etwa als Antwort auf die Frage nach dem Befinden. Sie wird oft gebraucht, wenn man sagen will, es gehe einem „so ganz erträglich“. Dann ist das Befinden, ist die Gesundheit – ist aber vielleicht auch die Verpflegung in einer Pension, die Behandlung in einem Sanatorium – n’itsch’ewo ss’eb’é. Das wird ohne stärkere Betonung gesagt und stellt etwa die phlegmatische Erscheinungsstufe des Wortes dar.
Ganz anders, und man könnte sagen im besonderen Sinne russisch, aber tritt das Wort in der folgenden Situation auf. Wir sind auf einer langen Eisenbahnfahrt. Mit dem Schaffner, der öfters in unseren Wagen hereinschaut, haben wir uns durch kleinere muntere Gespräche befreundet, in denen wir Gelegenheit hatten, seinen gesunden Mutterwitz zu bewundern. Jetzt ist er wieder in unser Abteil gekommen. Es ist ein warmer Tag, und wir sind mit ihm ans offene Fenster getreten, um den Faden des letzten Gespräches aufzunehmen, zugleich aber in die schöne grüne Landschaft hinauszuschauen. Da reißt ein ganz unvermittelt heranblasender Windstoß dem Mann die Uniformmütze vom Kopf. Verdutzt guckt er ihr nach, blickt zur Notbremse auf, ob man die wohl rasch ziehen könnte; besinnt sich dann aber, dass man wegen solch einer Bagatelle den lauf des obrigkeitlich geordneten Verkehrs doch nicht stören darf. Die Mütze im Graben ist während dieser Überlegungen kleiner und immer kleiner geworden und endlich ganz verschwunden. Der Schaffner fährt sich mit der Hand durch den Haarschopf und sagt dann mit einer unnachahmlichen Betonung n‘ í-tsch‘ é-wó. Jede Silbe hat plötzlich einen erhöhten Wert bekommen, und der dreifache Akzent wirkt wie der dreifache Hammerschlag eines Auktionators, der ein Ding für immer dahingibt. Und dieses n’itsch’ewó ist nun freilich von ganz anderer Art als die vorhergehenden. In ihm schwingt so vieles mit, was das russische Leben einerseits so liebenswürdig, andererseits so problematisch macht. Denn wer wollte leugnen, dass darin eine gewisse Großzügkigkeit zum Ausdruck kommt, ein Nichthaften an der Kleinlichkeit der Dingwelt. Ist die Mütze fortgeweht, – so mag sie doch! Heute behelfe ich mich ohne das alberne Ding. Heute nachmittag, morgen, vielleicht auch übermorgen, wird schon eine andere zur Stelle sein. Ja – vielleicht auch übermorgen: da liegt es eben. Es steckt nicht nur Großzügigkeit in diesem n’itsch’ewó, sondern etwas von der Stimmung, die man im deutschen scherzend mundartlich mit den Worten andeutet: „es gehe, wie es – wöll'“.
Es gibt im russischen drei Wörter, die den nach dem Verlust der Mütze eingetretenen Zustand ungefähr charakterisieren. Lexikalisch stehen sie etwa als „Gleichgültigkeit“, „Unordentlichkeit“ und „Nachlässigkeit“: will heißen: raw’nodúsch’ije, n’erjáschl’iwostj und n’ebr’é´jnosti. Keines von ihnen zeichnet den Sachverhalt ganz, aber von einem jeden von ihnen ist etwas dabei. Dazu aber kommt noch ein gehöriger Einschlag von Passivität, wenn nicht gar von Fatalismus. Durch lange Zeiten hat man mit der Grundstimmung gelebt: es nützt doch nicht viel, wenn du armer Teufel dich als einzelner bemühst; alles kommt nicht nur auf dich zu, alles kommt über dich! Oder auch: pflege die Dinge nur nicht allzusehr, denn erstens machst du dich dadurch zu ihrem Sklaven, zweitens erregst du Neid und Mißgunst. Und drittens: allzuviel Ordnung macht das Leben unsympathisch, sag lieber des öfteren ein gedehntes n’itsch’e-wó.
Anekdotisch wird erzählt, dass vor nicht langer Zeit eine Russin in eine große westeuropäische Stadt zu entfernten Verwandten auf Besuch kam. Etwa nach einer Woche fragten diese Verwandten ihren Gast, wie ihr denn die Stadt gefalle. „Schön – aber schrecklich!“ antwortete diese. „Schrecklich – wieso schrecklich?“ fragten die Gastgeber sehr erstaunt. Die Antwort lautete: „Schrecklich – unmenschlich viel Ordnung.“
Es spricht sich viel darin aus. Die Ordnung, die pedantisch auftritt, die liegt der russischen Seele von Natur nicht. Sie hat das Gefühl, dass sie in solcher Ordnung nicht atmen kann. In der Tiefe sucht sie schon auch das Gegliederte, Geordnete, aber dieses müsste irgendwie noch „anders“ sein. Und wo dieses „anders“ nicht glückt, hält sie es dann noch lieber mit dem vertrauten n’itsch’ewó.http://regio-media-network.de/archives/1015
Die Unordentlichkeit, die n’erjáschl’iwostj, schleicht sich hartnäckig wie ein Kobold durch alle Ritzen und Fugen ein. Es bedarf einer ungeheuren kultur-pädagogischen Anstrengung, sie zu bannen.
Verhältnismässig harmlos ist das n’itsch’wó, das gesprochen wird, wenn man meint, bestimmten Schwierigkeiten letzten Endes doch gut begegnen zu können.
Herrlich und bewunderswert ist eigentlich jenes n’itsch’ewó , von dem Ärzte mit großer Landpraxis oder Militärärzte aus Lazaretten immer wieder zu erzählen wissen. Da wird ein Schwerverletzter eingeliefert. Erst während der Untersuchung erlangt er das Bewusstsein wieder. Der Arzt nimmt es wahr, sieht den Patienten an und sagt: „Da ist nichts zu machen, mein Lieber, wirst dich fassen müssen; aus deinem rechten Arm wird nichts mehr, den müssen wir herunterholen.“ In den Augen des Patienten blitzt es auf: N’itsch’éwó, dóktor! ruft er kurz entschlossen.
Quelle: Text „Vom Genius Europas“ – Herbert Hahn

Ein gehörtes „nitschewo“ ist eben nicht ein einfaches „nitschewo“ – man muss schon etwas genauer hinhören, wenn man z.B. in der Starnberger Shoppingmeile im isixx-Land auf eine kleine Truppe russischer Damen trifft…
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