Rede Sigmar Gabriel: „Besser regieren für ein faires Deutschland“

Auf dem außerordentlichen Bundesparteitag der SPD am 26. September 2010 in Berlin, hielt der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel folgende Rede im Wortlaut:

Liebe Genossinnen und Genossen, lieber Werner, auch von mir noch einmal herzlichen Dank. Wir drücken dir in den nächsten Wochen die Daumen. Wir können jetzt nicht schnell die doppelte Staatsbürgerschaft einführen, damit es noch ein paar Stimmen für euch gibt: Heute ist Wahl in der Steiermark. Und in ein paar Wochen ist eine ganz wichtige Wahl in Wien. Wien muss rot bleiben, das ist doch klar! Darum alles Gute für euch in Österreich!
Liebe Genossinnen und Genossen, vor genau einem Jahr war Bundestagswahl, und vor zehn Monaten war der Dresdener Parteitag. Was ist uns damals alles vorausgesagt worden von den Wahl- und Meinungsforschern, den Kommentatoren und den Leitartiklern? – Zerrissenheit und Flügelkämpfe, Agonie und Apathie. Die medialen Hellseher schwankten in ihren Prognosen zwischen Mauerblümchen-Dasein und Müllhaufen der Geschichte.

Und wie ist die Lage heute? Die gestern veröffentlichten Umfragen des ZDF-Politbarometers und von Allensbach Andrea hat darauf hingewiesen sehen uns bei 30 Prozent. Und die, die uns vor einem Jahr ganz abgeschrieben und nichts mehr zugetraut hatten, fragen uns jetzt: Sagt mal, warum seid ihr eigentlich noch nicht bei 35 Prozent?

Ich finde, solche Fragen, wie sie heute gestellt werden, zeigen doch einen wunderbaren Meinungswandel unter den medialen Hellsehern hier im Lande. Ich finde, das ist die beste Botschaft, die wir kriegen können, liebe Genossinnen und Genossen.

Zehn Monate nach dem letzten Bundesparteitag in Dresden können wir selbstbewusst feststellen: Nichts von dem, was uns prophezeit wurde, ist eingetreten! Lasst uns das eine Lehre sein: Nicht die Leitartikler bestimmen die politische Lage im Land. Das können wir nur selber tun, liebe Genossinnen und Genossen. Auf uns kommt es an, und auf sonst niemanden!

Wir haben auch wieder gezeigt, dass wir Wahlen gewinnen können. In Nordrhein-Westfalen regieren wir wieder, und Hannelore Kraft ist unsere Ministerpräsidentin. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Erfolg!

Liebe Hannelore, ich habe selbst gesehen, wie unermüdlich ihr gearbeitet und gekämpft habt. Zu Beginn dieses Jahres – manchmal ist es ja ganz gut, wenn man sich mal erinnert , da saß Rüttgers in Düsseldorf fest im Sattel. Und die Journalisten haben von Schwarz-Grün geträumt. Heute sitzt Rüttgers daheim auf dem Sofa. Und Grüne wie Renate Künast entdecken letzte Woche im SPIEGEL wieder ihr Herz für das linke Lager. Ich sage: Herzlich willkommen, liebe Renate, zurück im Basislager!

Jeder darf mal einen Ausflug machen, und wenn Frau Merkel Renate Künast jetzt die kalte Schulter gezeigt hat, dann kann sie sich bei uns wieder aufwärmen kommen. Ich finde, so gelassen sollten wir damit umgehen.

Die Kanzlerin übrigens hat die politischen Lager wieder schön sauber getrennt mit ihrer Atompolitik und ihren harten Angriffen auf SPD und Grüne. Die Union zeigt im Herbst 2010 wieder ihr wahres Gesicht. Sie ist nicht sozialdemokratisiert, wie viele gedacht haben. Sie ist übrigens auch nicht ostdeutsch, weiblich und liberal, sondern westdeutsch, männlich und rechts. Das ist die Union, die wir heute wieder erleben!

Und deshalb bedient die Kanzlerin nun wieder die Rechtsausleger in der Partei. Selbst, dass Polen 1939 angeblich einen Angriffskrieg gegen Hitler-Deutschland geplant habe, darf man als Spitzenfunktionärin der CDU heute wieder laut sagen. Helmut Kohl wird sich der Magen umgedreht haben bei solchen Sprüchen aus seiner Partei.

Für uns Sozialdemokraten, liebe Genossinnen und Genossen, ist der Richtungswechsel der Union eine Chance. Denn Merkel macht Platz in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Das sind die, die sich für Aufstieg, Bildung und Leistung interessieren, aber auch für sozialen Ausgleich, Umwelt- und Verbraucherschutz. Die sind bitter enttäuscht vom Chaos und den seltsamen Regierungsformen dieser Regierung.

Wenn heute Bundestagswahl wäre – und das ist doch die gute Botschaft, und zwar seit Wochen und Monaten , dann hätten SPD und Grüne eine eigene Mehrheit. Und die Linke ist dabei, sich überflüssig zu machen, weil sie nicht politikfähig ist. Das hat sie bei der Bundespräsidentenwahl doch ausdrücklich gezeigt. Das ist die Lage, die wir heute in Deutschland haben!

Wo konnte man das besser merken als bei der Wahl des Bundespräsidenten – mit den zwei heimlichen Vorsitzenden der Grünen und den zwei gequälten? Ich hatte euch in Dresden versprochen: Wir werden zeigen, dass nicht wir uns ändern müssen, um mit denen regieren zu wollen, sondern dass die ganz viel an sich arbeiten müssen, damit sie mit uns regieren dürfen, liebe Genossinnen und Genossen. So herum muss es sein, und so muss es bleiben in den nächsten Jahren in Deutschland.

Und was die Grünen angeht: Ich freue mich, dass wir endlich wieder eine echte liberale Partei in Deutschland haben.

Das ist doch etwas Gutes: Wir haben nichts gegen richtige, gute Liberale. Denn die alte FDP ist das doch schon lange nicht mehr. Die Grünen sind jetzt gerade das, was die FDP 2009 war, nämlich eine Projektionsfläche für alle möglichen, sich auch widersprechenden Wünsche. Ich sage euch ganz ehrlich: Lasst uns doch froh darüber sein, dass jetzt die Grünen diese Projektionsfläche sind und nicht diese alte FDP mit Westerwelle. Das ist doch eine gute Entwicklung in Deutschland. Dagegen haben wir nichts.

Wir wollen 2013 eine eigene Mehrheit mit den Grünen. Das ist unser Ziel. Deshalb rate ich zu viel Freude und Gelassenheit, und zwar über die eigenen Umfragen und durchaus auch über die bei den Grünen. Kein Grund zur Aufregung, liebe Genossinnen und Genossen!
Politik besteht am Ende nicht nur aus Projektionen. Dort, wo Grüne und FDP regieren, verlieren sie nämlich ziemlich schnell ihre unbefleckte Empfängnis – und auch Wählerstimmen. Deutschland kann nicht nur nach den Wünschen einer gebildeten Oberschicht gestaltet werden.

Es geht auch in Zukunft um gewerblichen und industriellen Erfolg, der Dienstleistungen, Kultur und Sozialpolitik überhaupt erst möglich macht. Industriepolitik, die Integration von Zuwanderern, Haushalt und Finanzen, Kriminalitätsbekämpfung, äußere Sicherheit, die Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen, die weder im Prenzlauer Berg noch auf der Stuttgarter Halbhöhe wohnen, das sind die harten Themen, um die es in den kommenden Monaten in Deutschland gehen wird.

Einer, der weiß, wie man eine Stadt regiert – und dies seit zehn Jahren zeigt -, in der alle Herausforderungen, die wir in Deutschland kennen, wie in einem Brennglas zu sehen sind und angepackt werden müssen, das ist der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit. Der weiß, dass Politik mehr ist als Projektion.

Klaus, ich bin absolut sicher: Die Berlinerinnen und Berliner werden im kommenden Jahr wissen, dass man die Zukunft einer Stadt nicht nur mit Bionade und Latte Macchiato gestalten kann. Dazu gehört mehr Arbeit. Das zeigst du in deiner Regierung auch gut, finde ich.

Wir haben doch gemerkt, Genossinnen und Genossen, dass es viel Grund für Mut und Selbstbewusstsein gibt. Mehrheiten links von der Mitte brauchen ein starkes und verlässliches Zentrum. Das weiß am Ende auch das aufgeklärte Bürgertum. Und deswegen kämpfen wir nicht gegen andere Parteien, sondern um ein neues gesellschaftliches Bündnis zwischen Arbeitnehmern und ihren Familien, aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern, Selbstständigen und kritischen Intellektuellen. Das ist die Voraussetzung dafür,
dass unser Land zusammengehalten und nicht immer mehr auseinander getrieben wird. Das ist die Politik der SPD, die im Zentrum dieses Bündnisses steht. Dafür wird sie gebraucht.

Aber klar, es geht uns besser, weil die anderen so schlecht sind. Das war schon öfter so in Deutschland. Wer von uns hätte denn gedacht, dass die in zwölf Monaten aus der Regierung eine schlagende Verbindung und aus dem Kanzleramt ein Hinterzimmer für Lobbyisten machen? Nicht einmal wir haben denen das zugetraut. Da kann man mal sehen: Wir sind zu gutmütig, wenn wir sie beurteilen.

Und wenn sie regieren, wie regieren sie? In der Unternehmersprache heißt das „outsourcen“, und das geht so: Die Steuerpolitik machen Großbanken und Hoteliers. Die Pharmakonzerne schreiben für die Bundesregierung die Gesetzentwürfe in der Gesundheitspolitik. Und die Atomlobby wird von der Kanzlerin persönlich eingeladen, sich am Gemeinwesen zu bedienen. Angela Merkel ist die Kanzlerin der Konzerne geworden. Ihre Politik ist nun wirklich ein Konjunkturprogramm für Politikverdrossenheit in
Deutschland. Das ist es, was die dort abliefern.

Wenn ihr fragt, ob das der einzige Grund für die wachsenden Zustimmung zur SPD ist, dann sage ich: Damit eng verbunden ist die Erinnerung der Menschen, dass man besser regieren kann als diejenigen, die das gerade ableisten.

Die Leute erinnern sich an Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Sie wissen, wie man ein Land gut durch die Krise steuern kann, weil sie sich an Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Olaf Scholz erinnern.

Das ist der Grund, warum sie sich uns wieder zuwenden: Sie wissen, man kann es besser machen, als die anderen es derzeit treiben.

Es ist wahr: Wir sind gut durch die Krise gekommen, Gott sei Dank! Das ist vor allen Dingen der Erfolg vieler verantwortungsbewusster Unternehmerinnen und Unternehmer und kluger Gewerkschaften. Die haben uns gut durch die Krise gebracht. Die Arbeitnehmer haben auf Viel verzichten müssen. Aber zur Wahrheit gehört eben auch: Es sind diese drei Sozialdemokraten – Frank-Walter, Peer und Olaf -, die gegen die FDP, gegen die Grünen und auch gegen viele in der CDU/CSU die Bankenrettung, die Konjunkturpakete,
die Abwrackprämie und die Kurzarbeiterregelung durchgesetzt haben. Das ist der Grund, warum wir so erfolgreich sind hier im Land – gegen die anderen und für die Unternehmen.

„Flickschusterei“ haben Westerwelle und Brüderle das genannt, was uns durch die Krise gebracht hat. Ich habe gesagt, Brüderle sei der größte Abstauber in der deutschen Politik. Ich muss mich bei allen fußballerischen Abstaubern dafür entschuldigen. Denn ein Abstauber im Fußball steht wenigstens am richtigen Platz. Die hingegen waren im Abseits oder im Zuschauerraum. Die Abstauber sind fleißiger als das, was Brüderle da hingelegt hat.

Schwarz-Grün, Kauder und Künast, waren gegen die Abwrackprämie. Am Ende haben wir uns durchgesetzt. Angela Merkels wirkliche Leistung bestand damals ja nicht in eigenen intellektuellen Beiträgen, sondern darin, uns ihre Truppe vom Hals zu halten. Am Ende haben wir uns durchgesetzt.

Na klar, die war so lange eine gute Kanzlerin, wie sie von Sozialdemokraten bewacht wurde. Das ist es, was da stattgefunden hat.

Wir freuen uns über den Aufschwung. Dazu gibt es allen Grund; denn er hilft den Menschen, er hilft unserem Land. Aber wir sagen genauso selbstbewusst und stolz: Dieser Aufschwung ist eine sozialdemokratische Erfolgsgeschichte für Deutschland und die Menschen, die bei uns wohnen. Die SPD ist stolz auf das, was sie da geleistet hat, liebe Genossinnen und Genossen.

Andrea hat schon darauf hingewiesen, dass einer, der den größten Anteil hatte, heute nicht unter uns sein kann: Frank-Walter Steinmeier. Frank hat sich für einige Wochen aus der Politik zurückgezogen, weil es Dinge gibt, die uns zeigen, wie unwichtig manchmal all unser Streit und all unsere Rituale sind. Frank hat, und zwar ohne dass er das beabsichtigt hätte, das andere Gesicht eines sehr politischen, aber eben auch verantwortungsvollen Menschen gezeigt. Er hat aus Liebe gehandelt. Und er hat damit
sehr vielen Menschen ein Beispiel gegeben, wie man zusammenleben kann.

Deshalb: Lieber Frank, liebe Elke, wir wünschen euch beiden weiter Genesung und vollständige Gesundung. Kommt schnell wieder zu Kräften. Und dann, lieber Frank – ich finde, das müssen wir ihm jetzt auch einmal zurufen -, wirst du bei uns wieder dringend gebraucht. Er ist einer der besten, die die deutsche Sozialdemokratie zu bieten hat, liebe Genossinnen und Genossen.

Vor einem Jahr in Dresden haben wir uns auf den Weg gemacht. Keine Frage: Auch nach zwölf Monaten liegt noch eine Menge Arbeit vor uns, aber wir haben auch schon vieles geschafft.

Drei große Themen haben wir im vergangenen Jahr aufgearbeitet: unsere Haltung zu Afghanistan, unsere Arbeitsmarktpolitik und die Diskussion über die Rente mit 67. – Da wir zur Afghanistanpolitik auf Antrag des SPD-Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering, demnächst eine eigene Veranstaltung machen werden und da wir nachher zur Arbeitsmarktpolitik und unserem Antrag noch mit Olaf Scholz diskutieren, lasst mich hier nur zum letzten Thema, der Rente mit 67, ein paar Bemerkungen
machen:

Genossinnen und Genossen, die Debatte um die Rente mit 67 war und ist nicht ganz leicht. Ich lese Euch einmal aus zwei Briefen vor, die ich in diesen Tagen von SPD-Mitgliedern bekommen habe.

Aus Köln schreibt mir ein Genosse: „Lieber Sigmar, ich bin seit 55 Jahren Mitglied der SPD. (…) Ich finde es unverantwortlich, die von Münte eingeleitete Reform der gesetzlichen Rentenversicherung in Frage zu stellen.“

Aus Hamburg habe ich einen Brief bekommen, in dem es heißt: „Lieber Genosse Sigmar Gabriel, als Genosse, der seit mehr als fünf Jahrzehnten der SPD angehört, möchte ich Dir gern einmal meine Meinung zum Thema „Rente mit 67“ schreiben: Wir haben uns damals mit der Verlängerung der „Rente auf 67“ sehr schwer beschädigt. Das müsst Ihr wieder rückgängig machen.“

Nun hilft es aber nichts, wenn wir jetzt bei dem einen oder dem anderen Beifall klatschen, weil die Aufgabe schwieriger ist, als zu sagen: „Jetzt wollen wir uns durchsetzen!“ – Damit löst man keine Probleme. Das ist ja etwas, was wir öfter einmal versucht haben, nämlich die anderen in der Partei niederzustimmen und zu glauben, dass es uns hinterher besser geht. Wir haben festgestellt: Das ist ein Irrtum.

Warum ist das ein Irrtum? – Weil, so gegensätzlich, wie die Meinungen hier in der SPD sind, so gegensätzlich sind sie auch in der ganzen Gesellschaft – und das nicht etwa, weil die Menschen die Herausforderungen des demografischen Wandels nicht begreifen, sondern weil ihre Lebenserfahrungen sehr, sehr unterschiedlich sind.

Deshalb sage ich Euch: Ja, wir sind auf dem richtigen Weg; denn wir ignorieren weder den demografischen Wandel noch die unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Deutschland. Viele in unserer Gesellschaft können und werden länger arbeiten. Wir machen auch nicht mal eben die Rente mit 67 rückgängig, aber wir als SPD sind eben mehr als ein Rentencomputer, der mal eben ausrechnet, wie lange man theoretisch arbeiten muss, damit wir die Beiträge der Versicherung stabil halten. Oder noch klarer ausgedrückt: Es
reicht nicht, auszurechnen, auf wie viele Prozente diejenigen verzichten müssen, die es nie und nimmer bis 67 und meistens noch nicht einmal bis 65 schaffen.

Politik, Genossinnen und Genossen, ist mehr, als ein Versicherungsmathematiker tut. Wir müssen uns mehr Mühe geben: Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Menschen länger im Arbeitsleben stehen können. – Ja, da hat sich auch einiges getan. Aber wenn vor ein paar Jahren 10 Prozent der Menschen zwischen 60 und 64 gearbeitet haben und es heute 20 Prozent sind, dann ist das zwar eine ordentliche Steigerung, das heißt aber: 80 Prozent sind nicht mehr in ordentlicher Arbeit zwischen 60 und 64 oder können es
nicht mehr.

Deshalb ist es richtig, Genossinnen und Genossen, dass wir uns an das halten, was im Gesetz steht. Aber scheinbar gucken nur wir in dieses Gesetz hinein, und die CDU/CSU ignoriert es völlig. Da steht nämlich, dass wir im Jahr 2010 prüfen müssen, ob wir mit der Einführung der Rente mit 67 anfangen können; denn die Arbeitsmarktbedingungen – das fordert das Gesetz – müssen das erst einmal hergeben.

Ich sage Euch eindeutig: Wenn 80 Prozent der Menschen zwischen 60 und 64 nicht mehr arbeiten, dann, finde ich, sind die Arbeitsmarktbedingungen für die Einführung der Rente mit 67 nicht gegeben. Das ist doch die einfache Aussage.

Aber Achtung: Das ist kein Formelkompromiss – jedenfalls für mich nicht. – Die eigentliche Aufgabe der SPD kommt jetzt erst. Wir müssen realistische Vorschläge erarbeiten, wie wir mehr Ältere in Arbeit halten oder auch wieder bringen und wie wir vor allen Dingen denjenigen, die es gar nicht schaffen – nicht einmal bis 65 -, flexible Übergangsmöglichkeiten in die Rente geben, ohne dass sie dafür massive Renteneinbußen zu erleiden haben.

Eine Bemerkung an die, die am lautesten nach der Rente mit 67 rufen, nämlich die Arbeitgeber: Von denen erwarte ich allerdings, dass nicht die am lautesten schreien, die immer noch die Leute mit 59 nach Hause schicken, liebe Genossinnen und Genossen. Ich finde, das gehört dann auch dazu.

Am Ende der Debatte, Genossinnen und Genossen – da bin ich mir sicher -, wird es nicht darum gehen, die Rente mit 67 abzuschaffen, und auch nicht darum, sie für alle ohne Ausnahme zu verordnen. Wir wissen: Die Lebens- und Arbeitsrealitäten sind eben unterschiedlich geworden, und unsere Rentenpolitik muss dieser Unterschiedlichkeit wesentlich mehr Rechnung tragen. Den Schutz vor Altersarmut muss die SPD dabei in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen.

Wer sich mit der Rentenstatistik beschäftigt, der merkt doch, dass die Altersarmut wieder als neue Welle auf unser Land zurollt. Schon heute gehen viele Beschäftigte, weil sie entweder nicht mehr können oder weil sie von Unternehmen nicht mehr beschäftigt werden, in Rente, obwohl sie Abschläge hinnehmen müssen. Bei Chemiearbeitern, die im Schnitt mit 62 Jahren in Rente gehen – mit 62 im Schnitt -, beträgt die Durchschnittsrente 865 Euro. Das ist übrigens eine Bruttorente. Davon muss man in Zukunft
steigende Krankenversicherungsbeiträge bezahlen. 71 Prozent von denen, die mit in Rente gehen, nehmen Abschläge in Kauf.

Im Reinigungshandwerk beträgt das Rentenzugangsalter ebenfalls knapp 63, aber die Beschäftigten, überdurchschnittlich Frauen, beziehen nur 444 Euro durchschnittliche Rente – und nehmen zu 53 Prozent immer noch Abschläge in Kauf.

Liebe Genossinnen und Genossen, manchmal wünschte ich mir, die, die uns hier schlaue Ratgeber sind – aus dem Kreis der Professoren und auch der Journalisten -, müssten einmal vor Augen haben, im Alter mit diesen Rentenhöhen klarzukommen. Das würde ich mir manchmal wünschen.

Übrigens: Die, die wenig verdienen, sind auch die, die kürzer leben und so von ihrer Rente weniger haben. Wenn die jetzt auch noch später in Rente gehen dürfen, dann heißt das: Die Zeit, die sie die Rente genießen können, ist noch kürzer, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung niedriger als bei anderen ist.

In den USA und der Schweiz – beide bekanntermaßen nicht dadurch ausgezeichnet, dass sie sozialistische Gleichmacherei betreiben – erhält deshalb ein Geringverdiener einen höheren Prozentsatz seines früheren Einkommens als Rente ausgezahlt als ein Besserverdiener. So können sich kleine Renten dort sogar verdoppeln, während die Rentenhöhe am oberen Ende um ein Viertel sinkt. Auf diesem Weg kann man Menschen übrigens auch eher zumuten, mit Abschlägen in Rente zu gehen.

Dieser Vorschlag stammt nicht von einem Sozialdemokraten, sondern von einem Kritiker der SPD – Friedrich Breyer –, der in der FAZ gerade darauf hingewiesen hat, dass die Rente mit 67 allein völlig unzureichend ist. Und darum, liebe Genossinnen und Genossen, geht es mir.

Ich will mit dem Beispiel nur zeigen: Die Debatte ist nicht zu Ende, weil wir jetzt die Partei auf eine Linie gebracht haben. – Gewiss: Die SPD darf und wird sich vor den Herausforderungen des demografischen Wandels nicht drücken, aber eines tun wir auch nicht, nämlich Menschen massenhaft nach einem langen Arbeitsleben auf Sozialhilfe oder Grundsicherung zu verweisen.

Die SPD muss immer die Wirklichkeit im Blick haben, und das ist eben nicht nur eine demografische, sondern auch eine soziale Wirklichkeit. Unsere Aufgabe ist es jetzt, Vorschläge für flexible Übergänge in die Rente zu machen und Altersarmut zu vermeiden.
Ich danke deshalb sehr Kurt Beck, Elke Ferner, Olaf Scholz und Ottmar Schreiner, die sich für die damit verbundenen Aufgaben zur Verfügung gestellt haben und die bis zu unserem nächsten Parteitag Vorschläge dafür erarbeiten wollen. Herzlichen Dank an alle vier, dass sie sich dieser schwierigen Arbeit widmen wollen.

Kurt Beck und Ottmar Schreiner können heute aus gesundheitlichen Gründen leider nicht hier sein. Deswegen schicken wir den beiden vom Parteitag herzliche Genesungswünsche. Alles Gute und gute Besserung!

Wenn jetzt einige sagen, ihr rückt ja ab von eurer Position in der Regierung, dann sagt denen: Quatsch, im Gegenteil: Wir lesen bloß die Gesetze, die wir beschlossen haben. Wenn Euch wieder einer sagt, die SPD ist ja unmodern, dann guckt mal nach, wer das ist. Das sind meistens die Gleichen, die noch vor nicht allzu langer Zeit die Freiheit der Märkte, die Abschaffung des Kündigungsschutzes, die Abschaffung der Mitbestimmung und der Tarifverträge als ganz modern erklärt haben. Alle, die daran
festgehalten haben, fanden sie ganz unmodern. Ich sage Euch: Das sind oft dieselben, die selber noch in der Vergangenheit stecken und nicht in die Zukunft gucken. Was von denen als Zukunft beschworen wird, das – finde ich – muss endlich der Vergangenheit angehören. Nicht wir sind die Unmodernen, sondern diejenigen, die diesen Quatsch immer noch für modern halten.

Es geht in der Politik nicht um die Lufthoheit über dem Reichstag oder über ein paar Redaktionsstuben in Berlin. Es geht um Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihre Familien und auch um Millionen von Rentnern, die alle in diesem Land hart gearbeitet haben und die deshalb auch sicher leben wollen. Dafür ist die SPD da. Dafür kämpfen wir, liebe Genossinnen und Genossen.

Zwölf Monate nach Dresden ist natürlich noch nicht alles geschafft. Es ist noch viel zu tun. Ich will Euch vorstellen, wie aus meiner Sicht Richtung und Ziel unserer gemeinsamen Arbeit jetzt weiter aussehen soll. Viele Menschen – das wissen wir – stehen dem rasanten Wandel unserer Zeit ratlos gegenüber und akzeptieren ihn auch nur widerwillig. Sie wollen Sicherheit und Stabilität in einer Welt, die irgendwie aus dem Lot geraten scheint – ja, geraten ist.

Die Daten, die wir täglich präsentiert bekommen, bestätigen ja, dass es Gründe für diese Unsicherheit gibt. PISA-Test, OECD-Studien, Armutsberichte: Überall steht drin, dass Arm und Reich auseinanderdriften, dass wir weit davon entfernt sind, Chancengleichheit zu haben, und dass der gelungene Aufschwung dann, wenn wir so weitermachen, nicht allen nutzt.

Im Arbeitsleben gibt es inzwischen mehrfache Benachteiligungen: Die Hälfte unserer jungen Leute heute – das müssen sich einmal die vorstellen, die ein bisschen älter sind, auch diejenigen, die in meinem Alter sind – kommt nach einer guten Berufsausbildung oder nach einem Studium nicht in einen sicheren Job, sondern muss sich mit Zeit- und Leiharbeit, mit Praktika und mit schlechten Löhnen herumschlagen. Das konnten wir uns nicht vorstellen, dass in Deutschland so etwas einmal zur Regel und nicht zur
Ausnahme wird. Das sind übrigens die gleichen, zu denen wir sagen, wir hätten da noch ein paar Wünsche an Euch: Ihr sollt Familien gründen, Kinder kriegen und partnerschaftlich erziehen, und wenn es geht, sollt ihr an die Gesundheit denken und etwas für das Alter zurücklegen. Dass diese jungen Menschen uns für ziemlich abgehoben halten, wenn sie solche Sprüche hören, das – glaube ich – muss uns nicht wundern.

Die Reallöhne vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind schon seit vielen Jahren rückläufig. Zudem gibt es eine wachsende Distanz zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommen. Besonders bemerkenswert ist: Frauen erhalten immer noch ein Viertel weniger Stundenlohn als Männer für vergleichbare Arbeit. Und ihr Anteil in Führungspositionen stagniert bei 27 Prozent. Von Gleichberechtigung, liebe Genossinnen und Genossen, sind wir weit entfernt. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und endlich
mehr Frauen in Führungspositionen auch in der Wirtschaft und in der Politik: Das ist überfällig in Deutschland! Das ist etwas, was wir herbeiführen müssen.

Noch immer sind die sozialen und die gesellschaftlichen Unterschiede, die Ungleichheit und Unfairness in Deutschland die wichtigsten Herausforderungen für die SPD.
Liebe Genossinnen und Genossen, Anti-AKW-Demonstrationen machen wir auch, und aus großer Überzeugung. Neben vielen anderen Themen gehört Umwelt- und Klimaschutz längst zum festen Bestandteil sozialdemokratischer Programmatik. Aber es gibt etwas, da werden wir besonders gebraucht, weil wir davon mehr verstehen als alle anderen in Deutschland oder in Europa: sich darum zu kümmern, dass Leistung und Arbeit sich wirklich wieder für alle in unserer Gesellschaft lohnen.

Dass Bildung und Aufstieg für alle möglich sind – für Deutsche und Ausländer, für Männer und Frauen, für Jüngere und Ältere, egal aus welchen Elternhäusern sie kommen. Dass technologischer Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum mit fairen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen verbunden sind – übrigens nicht nur bei uns, sondern überall auf der Welt. Und dass dabei die natürlichen Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Enkelkinder nicht ruiniert werden, auch dafür treten wir an. Dass die
Bedingungen für Alleinerziehende ebenso besser werden wie für partnerschaftliche Familien. Und dass Menschen unabhängig von Einkommen und Geschlecht in unserer Gesellschaft sicher aufgehoben sind, wenn sie in Not geraten oder Hilfe brauchen.

Das ist der Kern der deutschen Sozialdemokratie seit fast 150 Jahren. Seit fast 150 Jahren streiten wir für den Zusammenhalt in der Gesellschaft: von Jungen und Alten, von Wohlhabenden und Ärmeren, von Besserverdienenden und denen, die nicht so gut verdienen, von Starken und Schwächeren, von Gesunden und Kranken. Sie alle gehören zu einer Gesellschaft, zu unserer Gesellschaft. Und im Zentrum stehen Bildung und Arbeit – gute Bildung und gute Arbeit – und fairer Lohn: Das ist das, was Sozialdemokraten in
Deutschland in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen müssen.

Der Sozialstaat ist dabei nicht nur eine große zivilisatorische Errungenschaft in der europäischen Geschichte. Er ist das Instrument für die Verbindung von Freiheit und Verantwortung. Er ist das Instrument für eine gerechte Gesellschaft und für Fairness. Wer nach dem Markenkern der SPD fragt: Da ist er. Niemand anderes kümmert sich darum.
Das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Hans-Jochen Vogel hat uns gestern aufgefordert: Stellt den Kampf für soziale Gerechtigkeit und ein freies Leben für alle Menschen, egal woher sie kommen, wieder in den Mittelpunkt! Recht hast du, Hans-Jochen! Darum geht es in den nächsten Monaten.

Wenn wir das wollen, werden auch wir uns verändern müssen. Es gibt zwei Veränderungen in unserer Haltung, in der Strategie, und auch in der Art und Weise, wie wir kommunizieren, von denen ich glaube, dass sie nötig sind.

Erstens: Wir müssen wieder mehr Partei ergreifen, wir müssen parteiischer werden.
Zweitens: Wir müssen europäischer werden.

Die SPD muss Partei ergreifen. Das ist übrigens der Grund, warum es überhaupt Parteien gibt. Partei bedeutet: Teil vom Ganzen. Wir müssen die Frage beantworten: Wie wollen wir das Ganze nach vorne bewegen und wen haben wir dabei besonders im Blick?

Wir Sozialdemokraten waren einmal die einzige Partei, die in der Lage war, ein scharfes Bild von einem anderen, von einem emanzipierten Leben zu entwerfen. Eine Partei, die in der Lage war, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Eine Partei, die den Entrechteten ihre Rechte wiedergab. Eine Partei, der man vertraute, wenn sie der Gesellschaft das Versprechen auf Aufstieg und auf gerechte Teilhabe gab. Darum geht es. Dafür müssen wir wieder parteiischer werden.

Heute werden wir meistens wie alle anderen Parteien zu „der Politik“ gezählt, zu „denen da oben“. Viele fühlen sich selber als „die da unten“.

Die größte Gefahr für die Demokratie ist ihre Verachtung. Wir erleben derzeit eine wachsende Verachtung von oben und von unten. Teile der Wirtschaftselite glauben, politisches Engagement nicht mehr zu benötigen. Im Gegenteil: Demokratisch legitimierte Politik ist für die meisten von denen, die sich da äußern, nur ein Hemmschuh für Interessen. Noch problematischer ist die andere Seite der wachsenden Skepsis gegenüber allen demokratischen Institutionen, Politikern und Parteien – auch der SPD -: Die
Menschen spüren in Wahrheit – darauf hat Werner Faymann hingewiesen – die Ohnmacht der nationalen Politik gegenüber der Macht entfesselter und globalisierter Kapitalinteressen und sind enttäuscht von einer Politik, der sie nicht mehr vertrauen.
Sie glauben eher denen, die Politik gering schätzen oder als opportunistisches Theater entlarven wollen. Sie kreiden der Politik die aktuelle Hilflosigkeit an. Ich danke übrigens deshalb Joachim Gauck so sehr dafür, dass er für uns kandidiert hat, weil er gerade diese Entfremdung zwischen Regierung und Regierten zu einem Thema seiner Präsidentschaftskandidatur gemacht hat. Deshalb wäre es auch gut, wenn er gewonnen hätte, liebe Genossinnen und Genossen.

Viele Menschen haben längst nicht mehr den Eindruck, dass wir in der Politik, in den Regierungen und in den Parteien – also auch wir Sozialdemokraten – wissen, wie das Leben wirklich ist. Viele glauben, wir interessieren uns auch gar nicht dafür. Für sie sind wir „die da oben“ und sie selbst „die da unten“.

Liebe Genossinnen und Genossen, die meisten von denen, die sich abgewandt haben, sind aber nach wie vor aufrechte Demokraten. Ganz viele von denen haben früher SPD gewählt. Wir haben ihnen nämlich eine Stimme gegeben. Wir haben für sie Partei ergriffen. Und das müssen wir wieder tun. Es wenden sich vor allem jene ab, die selbst jeden Tag merken, wie viel sie zu leisten bereit und in der Lage sind und wie wenig das in der Politik – auch in unserer– Beachtung findet.

Ich will Euch ein Erlebnis schildern – das ist erst vor kurzem passiert -, das ganz schön deutlich macht, wie die Stimmung so ist: In Dessau habe ich eine junge Mutter getroffen, die mit 32 Jahren noch einmal die Schulbank drückt in einer Berufsschule, die eine zweite Berufsausbildung macht, weil sie nämlich mit ihrer ersten Berufsausbildung als Kosmetikerin in der Apotheke lediglich 3,60 € verdient. Sie hat nicht gejammert. Sie wollte auch nicht immer zum Sozialamt gehen und sich etwas dazu holen,
sondern sie hat gesagt: Okay, dann mache ich noch eine zweite Ausbildung.

Weil sie ein Kind hat und derzeit natürlich auch nicht arbeiten kann, ist sie hingegangen und hat gesagt: Ich brauche Hartz IV, ich brauche sozusagen Sozialhilfe, damit ich das schaffen kann. – Die haben gesagt: Nein, dafür sind wir nicht zuständig. Da Sie in die Berufsschule gehen, müssen Sie zum BAföG-Amt gehen. Dann ist sie zum BAföG-Amt gegangen, und die haben gesagt: Ja, hier sind sie richtig. Wir sind dafür zuständig. Aber leider sind Sie schon 32, und wir zahlen nur bis 28.

Sie fragt mich: Sagen Sie mal, Herr Gabriel, Sie quatschen in der Politik immer vom lebenslangen Lernen und von Ihren Vorstellungen vom Sozialstaat. Aber was tun Sie eigentlich für mich? Ich finde, sie hat recht, liebe Genossinnen und Genossen. Für sie müssen wir etwas tun.

Das ist keine Klientelpolitik à la CDU/CSU und FDP. Das richtet sich auch nicht an die oberen Einkommensschichten wie bei den Grünen. Es reduziert Sozialpolitik eben nicht auf Hartz IV wie bei der Linken.

Diese Politik richtet sich an die, von denen der frühere amerikanische Präsident, Bill Clinton, einmal gesagt hat: „People, who work hard and play by the rules.“ – Leute, die hart arbeiten und sich an die Spielregeln halten.

Das ist die Mehrheit, liebe Genossinnen und Genossen! Wir waren früher immer für sie da. Die wussten auch, wir kennen uns in ihrem Leben aus. Der Wohnungsbauzuschuss, den wir einmal eingeführt haben, die Wohnungsbauförderung, die diente doch nicht nur dazu, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern eine preiswerte Wohnung zu geben. Sie diente einmal dazu, dem Handwerksgesellen, demjenigen, der irgendwo Facharbeiter war und nicht genug verdient hat, die Chance zu geben, in eine Wohnung zu ziehen, in der es
Zentralheizung gab, oder sich ein eigenes Haus zu bauen. Es war klar, dass wir uns um deren Leben kümmern.

Ich sage Euch, die Lehre von damals gilt auch heute: Wir müssen eine Politik machen, die die Mehrheit der Bevölkerung im Blick hat. Dann wird die Mehrheit der Bevölkerung auch akzeptieren, wenn wir uns um Minderheiten kümmern. Und die umgekehrte Regel lautet: Die Summe der Politik für Minderheiten, liebe Genossinnen und Genossen, ergibt keine Mehrheit.

Es geht um die, die hart arbeiten, die Steuern und Sozialabgaben zahlen, die sich kümmern, die aufsteigen wollen, die Kinder haben, die ihre Eltern pflegen und die wissen wollen, dass sie gut aufgehoben sind. Wenn sie merken, das sind sie bei uns, dann verstehen sie auch, wenn wir sagen: Leute, es geht nicht nur um Euch. Es geht auch um die, die gar nicht mehr arbeiten können. Es geht um die, die nicht mithalten können. Die müssen in Deutschland auch menschenwürdig leben können. Das müssen die
anderen akzeptieren. Das tun sie auch, wenn sie merken, dass wir uns auch um ihr Leben kümmern. Also, darum geht es in den nächsten Jahren.

Wenn wir wieder mehr Partei ergreifen, dann geht es doch um ein ganz altes Thema der SPD, das an Aktualität nichts verloren hat. Es geht um die Freiheit. Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir doch: Die Freiheit, aus seinem Leben etwas machen zu können, ist bedroht.

Nicht durch Diktatoren oder Unrechtsregime in Deutschland oder Europa, sondern dadurch, dass immer mehr Menschen der Willkür anonymer Märkte unterworfen werden.
Drei Jahrzehnte war doch das Credo: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht. Politik braucht man nur da, wo es Regeln braucht, die das Gemeinwohl herbeiführen können. Wenn man der Meinung ist, das können die Märkte alleine, na klar, dann braucht man keine Politik. So war doch die herrschende Lehre seit drei Jahrzehnten.
Der blinde Glaube an den freien Markt wurde zur Wissenschaft erklärt und zur herrschenden Meinung. Zu schön war einfach der Traum vom Geld, das sich wie von selbst vermehrt, ohne Arbeit und ohne Anstrengung.

Heute wissen wir: Die Wirtschaftswissenschaften lagen falsch in ihren Annahmen, und sie wühlen sich gerade durch die Trümmer ihrer Theorien.

Die Krise lehrt uns, dass jeglicher Marktfundamentalismus uns teuer zu stehen kommt. Und sie hat uns auch gelehrt, dass es weder unsichtbare Hände noch dritte Wege gibt.
Es hat ein bisschen gedauert. Das ging mir aber auch so, als ich die Rede dreimal umgeschrieben habe.

Liebe Genossinnen und Genossen, es ist ja nicht die Globalisierung selbst, die uns Schwierigkeiten macht.

Die Öffnung der Grenzen, die Beendigung des Blockdenkens und des Wettrüstens, die schrittweise Durchsetzung eines freien Welthandels haben auf der Welt mehr Freiheit, mehr Demokratie und eine gewaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für viele Millionen Menschen geschaffen. Die Globalisierung bietet die Chance auf wachsenden Wohlstand und Gerechtigkeit für alle weltweit. Zurzeit aber schafft sie nicht Gerechtigkeit für alle, sondern Reichtum für wenige. Und sie zerstört in
einem nie gekannten Ausmaß die natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen.

Die Aufgabe der SPD in Deutschland, die Aufgabe der Sozialdemokratie in Europa und – ich sage dazu – die Aufgabe der Linken weltweit ist doch nicht, die Globalisierung aufzuhalten, sondern unsere Aufgabe ist, ihr die richtige Richtung zu geben. Und die lautet: Gerechtigkeit für alle statt Reichtum für wenige. Das ist der Kompass, nach dem wir gehen wollen.

Und deshalb gilt jetzt: Wir werden dafür eintreten und – ja, auch kämpfen müssen, dass der Kapitalismus fair, sozial und gerecht gestaltet wird. Nicht allein, sondern mit vielen anderen zusammen – übrigens nicht nur mit Gewerkschaften, Umweltverbänden und Attac, sondern auch mit den Arbeitgebern, vor allem mit dem Mittelstand. Sie sind doch genauso negativ vom entfesselten Finanzmarkt betroffen wie alle anderen.

Übrigens: Die Mittelständler, die ich kenne, verfolgen durchaus ähnliche Ziele wie wir. Sie wollen, dass sich Leistung und Anstrengung lohnen. Sie achten die Gewerkschaften und die Mitbestimmung. Und sie wollen Fairness und Nachhaltigkeit, vor allen Dingen auch für ihre eigenen Kinder.

Ich wiederhole, was ich in Dresden gesagt habe: Diese Mittelständler und verantwortungsbewussten Manager und Unternehmer, von denen es viel, viel mehr gibt als vom Gegenteil, das ist nicht der Klassenfeind, Genossinnen und Genossen. Die müssen wir – gemeinsam mit vielen anderen – zu Partnern, zu Bündnispartnern machen für eine andere Richtung der Globalisierung. Damit schützen sie auch sich selbst.

Noch immer ist richtig, was vor 50 Jahren in Godesberg beschlossen wurde: So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig. Wir Sozialdemokraten wollen keine staatlich gelenkte Wirtschaft. Aber wir wollen uns eben auch nicht mit einem entfesselten Kapitalismus abfinden, in dem die Arbeitnehmer, die Familien und alle Schwachen unter die Räder kommen. Nicht die Abschaffung von Wettbewerb, Marktwirtschaft und Privateigentum ist unser Ziel, aber die Einbindung in Spielregeln, die dafür sorgen, dass sich
die Menschen in ihrem Freiheitswunsch, aus ihrem Leben etwas zu machen, nicht immer wieder erneut unterordnen müssen unter die Interessen von wenigen, die ihren Herrschaftsanspruch immer mehr ausweiten wollen. Darum geht es in unserem Kampf, liebe Genossinnen und Genossen.

Daran werden wir aber arbeiten müssen. Denn seien wir ehrlich: Fortschritt und Sozialdemokratie – das war zwar ganz lange Zeit fast deckungsgleich. Wer die Dinge konservieren wollte, der ging nach rechts, und wer zur Sozialdemokratie kam, der glaubte an den Fortschritt.

Aber lasst uns nicht darüber hinweghudeln: Es ist nicht mehr so, dass SPD und gesellschaftlicher Fortschritt heute automatisch zusammen genannt werden.

Erhard Eppler hat einmal gesagt: „Verantwortliche linke Politik wird immer versuchen, Hilfe für die Schwächeren in Einklang zu bringen mit dem Wohl des Ganzen, also auch einer florierenden Wirtschaft.“ Sozialdemokratie war immer erfolgreich, wenn sie ökonomisches Vertrauen erhielt und gleichzeitig Kompetenz für soziale Gerechtigkeit zeigte. Dieses Fortschrittsmodell, Genossinnen und Genossen, müssen wir neu entwickeln und dafür Bündnisse schmieden.

Unser Fortschrittsmodell besteht aus drei Strängen: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Sicherheit und ökologische Verantwortung. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn jemand fragt „Was ist eine faire Gesellschaft?“, dann ist es eine Gesellschaft, die diese drei Dinge zustande bringt – und zwar nicht von jedem ein bisschen, sondern die diese drei miteinander verzahnt: wirtschaftliche Leistung, soziale Sicherheit und ökologischen Fortschritt.

Natürlich geht es auch um technologischen Fortschritt, es geht darum, diesen ökologisch nachhaltig zu gestalten. Aber, Genossinnen und Genossen, wir müssen schon klar machen, dass wir da nicht romantisch sind. Wir reden nicht darüber, dass wir die Probleme der Industriegesellschaft mit den Instrumenten der Agrargesellschaft lösen. Wir wollen keinen Biosprit aus Mais oder Raps, sondern wir wollen Raffinerien, wo man vorne einen Kubikmeter Abfall hineinschiebt und hinten einen Liter Sprit herauskommt.
Dafür braucht man Forscher, Ingenieure, Meister, Facharbeiter, Angestellte. Greentech ist Hightech.

Dazu zählt auch, dass man sich selbst und allen anderen nichts vormacht, liebe Genossinnen und Genossen. Jeder technische Fortschritt, jeder Fortschritt überhaupt enthält auch Risiken. Es gibt keinen risikolosen Fortschritt. Worum es geht, ist die Abwägung von Risiken und sich dann verantwortlich zu verhalten. Man kann nicht gegen alles sein: Gegen Atomkraftwerke, gegen Kohlekraftwerke, gegen Windräder, gegen Biomasseanlagen, gegen Strommasten. Gelegentlich muss man auch das mal den Grünen sagen,
liebe Genossinnen und Genossen!

Für die SPD muss klar bleiben: Industrie ist die Grundlage unseres Wohlstands in Deutschland, auch wenn sie nur 25 % der Produktion ausmacht. Ohne die Industrie gäbe es viel weniger Forschung, viel weniger Dienstleistungen, viel weniger Wertschöpfung im Land und viel, viel weniger Jobs. Und es gäbe übrigens auch viel weniger Geld für den öffentlichen Dienst, für Bildung, Kultur, Entwicklungshilfe oder Umweltschutz.
Deshalb trete ich jedenfalls und ich hoffe, alle von uns dafür ein, dass diese Industriegesellschaft erfolgreich bleiben muss. Und dazu gehören Rohstoffpipelines ebenso wie soziale Sicherheit, Kraftwerke genauso wie gute Bildung und Erdgasspeicher genauso wie Mitbestimmung. Das zu verbinden, liebe Genossinnen und Genossen, das ist unsere Aufgabe. Es darf keine Arbeitsteilung geben: Wir hier in Berlin im Parteivorstand oder in der Regierung sind für Industriepolitik und alle anderen können sich
heraushalten und sind im Zweifel auf der Seite jeder Bürgerinitiative. Diese Teilung können wir uns nicht länger leisten! Wir müssen dafür kämpfen, dass wir wieder Fortschrittsträger in Deutschland werden!

Noch einmal: Nicht Ignoranz des Risikos, sondern Abwägung. Deshalb sind wir ja gegen Kernenergie und für erneuerbare Energien. Aber diesen Abwägungsprozess müssen wir machen, und dabei muss man sich Mühe geben.

Die zweite Aufgabe, wo wir uns ändern müssen, Genossinnen und Genossen, ist: Natürlich wollen wir den Menschen zeigen, dass die Welt noch politisch zu gestalten ist. Aber dafür müssen wir uns davon verabschieden, dass das noch national ginge. Und deshalb muss die SPD europäischer werden. Und der Kampf um faire, soziale und gerechte Spielregeln wird in Zukunft wieder mehr ein internationaler und ein europäischer werden. Deshalb danke ich Werner Faymann so dafür, dass er mithilft, dass das überall in
Europa in den Sozialdemokratien wieder einkehrt. Das ist übrigens gar keine neue Erkenntnis: 1889 hat sich in Paris die Internationale Arbeiterassoziation getroffen und gesagt: Wir wollen den Acht-Stunden-Tag, wir wollen das Frauenwahlrecht, wir wollen Demokratie. Und dann haben sie gesagt: Das schaffen wir nicht, das Kapital ist national organisiert, die werden uns gegeneinander ausspielen. Wir werden international agieren müssen. – Heute stellen wir allerdings leider fest: Das mit dem Kapital ist
ziemlich international geworden, und die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften sind manchmal noch ziemlich national. Deshalb ist es gut, dass Michael Sommer Chef der internationalen Gewerkschaften geworden ist. Wir müssen wieder internationaler und wieder europäischer werden, liebe Genossinnen und Genossen!

Aber wir erleben das Gegenteil. Wir erleben in Europa eine Re-Nationalisierung von Politik. Jeder schaut nur auf den eigenen Vorteil. Jeder versucht, das eigene Privileg zu verteidigen und auszubauen. Da, wo Zusammenarbeit gerade nach der Krise nötig wäre, da gibt es nationale Egoismen zuhauf. Und die schlimmsten Beispiele sind Frankreich und Deutschland. In Deutschland tut Frau Merkel so, als sei sie die „eiserne Kanzlerin“ und „Madame No“, und der Sarkozy in Frankreich benimmt sich wie der
Springteufel der internationalen Politik.

Das ist doch absurd, was da stattfindet: In einer Zeit, in der man zusammenarbeiten muss, da treffen die sich regelmäßig und führen immer wieder das gleiche Märchen auf – „Des Kaisers neue Kleider“ – und alle sehen: Die sind verdammt nackt, liebe Genossinnen und Genossen!

Und ich sage euch: Anstatt die Verantwortlichen für die Krise laufen zu lassen und die Bürgerinnen und Bürger Europas zur Kasse zu bitten, da ist es doch richtig zu sagen: Nein, denen, die uns in die Krise hineingeritten haben, die schon wieder Milliarden verdienen, wollen wir das Geschäftsmodell lahmlegen, und von deren Gewinnen wollen wir etwas abhaben, um die Schulden abzubezahlen. Wir wollen nicht die Kinder, die Jugendlichen und die alten Leute dafür bezahlen lassen! – Darum geht es in den
kommenden Jahren!

Allein Deutschland könnte mit einer Finanztransaktionssteuer weit mehr als 14 oder 15 Milliarden Euro pro Jahr einnehmen. Liebe Genossinnen und Genossen, wenn wir jetzt dafür eintreten, dann haben wir eine große Chance. Zum ersten Mal können wir in Europa überall in allen Ländern ein Thema setzen, das alle verstehen, das in jeder Sprache übersetzbar ist und wo alle wissen, sie sind betroffen. Deswegen wollen Werner Faymann und ich dafür werben, dass wir, wenn das entsprechende Gesetz in Europa
fertig ist, eine europäische Volksinitiative starten. Wir wollen in allen Ländern Europas mit den Gewerkschaften, mit den Zivilverbänden, mit den Umweltverbänden Unterschriften sammeln, dass das Thema Finanztransaktionssteuer nicht durch die Regierungschefs weggebügelt wird, sondern dass es auf die Tagesordnung im Parlament in Brüssel und bei der Kommission gehört, und den Leuten wieder zeigen, worum es in Europa wirklich geht, nämlich nicht nur um die Freiheit der Märkte, liebe Genossinnen und
Genossen.
Europa ist für uns mehr als ein Markt. Für uns sind die Bürgerinnen und Bürger keine Objekte von Finanzmarktentscheidungen. Die europäische Idee stellt das Gemeinwohl über die wirtschaftlichen Einzelinteressen, die kulturelle Vielfalt über Anpassung, die Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur, die Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung und übrigens auch die universellen Menschenrechte und die Demokratie
über das Recht des Stärkeren. Diese europäische Idee von Freiheit und gegenseitiger Verantwortung müssen wir neu beleben. Wirtschaftlich stark, kulturell vielfältig, sozial sicher und ökologisch nachhaltig – das geht nur in einem gemeinsamen Europa.

Deshalb wollen wir zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen sozialdemokratischen Parteien jetzt an einem gemeinsamen Programm arbeiten, damit es für die nächste Europawahl nicht 27 sozialdemokratische Programme gibt, sondern eines. Übrigens: Am Ende, finde ich, muss es auch einen Spitzenkandidaten geben.
Und einer derjenigen, der da Vorreiter ist, der das für uns vorantreibt und der dafür ganz viel leistet, das ist der Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, das ist unser Genosse Martin Schulz. Vielen Dank dafür, dass du das machst, lieber Martin!

Partei ergreifen und europäischer werden: Das müssen wir an ein paar wichtigen Beispielen in der deutschen Politik auch zeigen. Es wäre gut, wenn wir uns in Deutschland nur über politische Inhalte streiten müssten. Aber wir müssen uns auch über Formen von Politik streiten, leider ist das so.

Es gibt zwei aktuelle Beispiele: Am letzten Mittwoch hat Schwarz-Gelb eine sogenannte Gesundheitsreform auf den Weg gebracht, die kein Problem des Gesundheitswesens löst, aber neue schafft. Die Pharmaindustrie schreibt die Gesetzentwürfe, die Lobbyisten der privaten Krankenversicherungen setzen sich durch, die gesetzlichen Krankenkassen werden geschwächt, und Patienten, Pflegepersonal und auch Ärzte spielen keine Rolle. Was die Regierung vorbereitet, liebe Genossinnen und Genossen, ist nicht die
Abschaffung des Zwei-Klassen-Systems in der Medizin. Und wir haben eine Zweiklassenmedizin: Die gesetzlich Versicherten warten fünf, sechs Wochen auf einen Arzttermin, und wenn sie einen bekommen, dann sitzen sie zwei Stunden in der Praxis. Aber der erste, der nach fünf Minuten dran ist, wenn er reinkommt, ist der Privatversicherte.

Die 80 Prozent der Bevölkerung, die in den gesetzlichen Krankenkassen sind, die alles bezahlen im Gesundheitswesen, liegen im Vierbettzimmer, und die, die 20 Prozent bezahlen, liegen im Einbettzimmer oder Zweibettzimmer. Statt damit Schluss zu machen, will man jetzt eine Dreiklassenmedizin machen. Die fangen jetzt an und sagen: Erstens: Wir erhöhen die Beiträge – das übrigens zum Wahlversprechen „mehr Netto vom Brutto“. Das Gegenteil ist der Fall.

Dann sagen sie zweitens: Nun ist aber Schluss mit solidarischer Versicherung. Allen Fortschritt der Medin, alle Herausforderungen des demografischen Wandels, alle Kostensteigerungen, zahlen ab dann nur noch die Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer, die wenig oder durchschnittlich verdienen. Alle anderen sind davon befreit. Und dann wird es drittens Zusatzbeiträge geben – nicht jetzt, macht euch keine Sorgen, so schlau, jetzt noch einmal Geld reinzuschieben, damit das erst nach 2012/2013 passiert, sind die
auch. Aber dann! Dann kann das ganz schnell ein paar hundert Euro kosten.

Aber was werden dann die Krankenkassen machen? – Sie werden nicht bis zum Ende ständig ihre Beiträge für die Versicherten steigern, sondern sie werden anfangen, Leistungen auszugrenzen. Und dann gibt es drei Klassen in Deutschland: Die, die genug Geld haben, gehen in die private Kasse. Diejenigen, die mittlere Einkommen haben, sind in der gesetzlichen Kasse und versichern sich privat. Und die, die nicht genug haben, müssen mit dem klar kommen, was unten übrig bleibt.

Ich sage euch: Darum geht es. Rösler hat nur ein Ziel: Er will einen Teil der gesetzlich Versicherten als Beute in die privaten Krankenkassen bringen. Das ist sein eigentliches politisches Ziel.

Lasst uns die Bürgerversicherung dagegenhalten, liebe Genossinnen und Genossen. Wir wollen für die Alternative der Bürgerversicherung kämpfen.

Lasst uns auch beim zweiten Beispiel zeigen, dass es besser geht. Denn wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass diese Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP nichts als Klientelpolitik betreibt, dann war das der Deal zur Laufzeitverlängerung mit den vier großen Energieversorgern. Den vieren sind erst einmal schlankweg 100 Milliarden Euro zugeschoben worden. Und das übrigens von einer Regierung, die sonst permanent erzählt, sie sei für Mittelstand und Wettbewerb. Brüderle lässt sich ja immer gerne
mit dem Buch von Ludwig Erhard fotografieren, sozusagen als sein Nachfolger. Ich glaube, er hat höchstens den Klappentext gelesen: Das hätte Erhard nie zugelassen!

Ich brauche mit denen gar nicht über den Sinn oder Unsinn von Atomenergie zu streiten. Das verstehen die nie. Aber ich habe bisher gedacht, man könnte wenigstens über Arbeitsplätze mit dieser Bundesregierung reden. Denn wir haben 300 000 neue Jobs bei den erneuerbaren Energien geschaffen. Alle wissen, diese Zahl können wir bis 2020 verdoppeln. Aber das geht doch nur, wenn einer, der privat Geld investiert – und man muss investieren, damit sie sich entwickeln , weiß, dass er seinen Strom ins Netz
bekommt.

Wenn der Atomstrom bis 2040 läuft, dann werden die Privaten nicht investieren und dann werden nicht aus 300 000 600 000 Jobs.

Ich sage: Es geht dabei nur um eine Sache: Die haben ein wirtschaftliches Interesse bedient. Denn mit einem alten Kraftwerk kann man pro Tag 1 Million Euro verdienen. Darum ging es, um mehr nicht. Und dafür setzen sie die Zukunft Deutschlands in einem der zentralen Leitmärkte und 300 000 Arbeitsplätze aufs Spiel. Das müssen wir ihnen vorhalten; das ist die Aufgabe der SPD in Deutschland! Denn die Leute wollen das nicht.
– Wir verabschieden jetzt gerade, glaube ich, Werner Faymann. Werner, du musst zurück nach Österreich, mach’s gut! Tschüss!

Ich habe am Beispiel der Laufzeitverlängerung deutlich gemacht: Es bleibt richtig, was die SPD seit vielen Jahren fordert – die Aufnahme von Volksabstimmungen in die Verfassung. Jochen Vogel hat auch darauf gestern noch einmal hingewiesen. Ich meine, es wäre ganz gut, so ein Instrument zu haben, weil damit auch ein Zynismus der Politik ein Ende hätte, den es ja leider gibt. Der Zynismus lautet: Wenn man gewählt wird, dann soll man nach dem Motto „quick and dirty“ handeln – schnell und schmutzig.
Denn in ein paar Jahren, wenn wieder Wahl ist, haben die Leute das vergessen. Das ist das bösartige Motto, das, glaube ich, keinem in der Politik völlig fremd ist. Ich glaube, dass Referenden und Volksabstimmungen eine ganz heilsame Wirkung haben können. Denn wenn du nicht sicher bist, ob das, was du machst, über eine Volksabstimmung oder ein Referendum kassiert wird, dann wirst du dir mehr Mühe geben und auch richtig erklären, was du machen willst. Dann kommen natürlich einige und sagen:
Volksabstimmungen gehen auch schief. – Das kann aber nur einer sagen, der glaubt, im Parlament ginge nichts schief, liebe Genossinnen und Genossen. Da gibt’s das auch.

Ich finde, man kann auch als Regierung ein Referendum nutzen, um Entscheidungen besser zu legitimieren. Deshalb ist der Vorschlag der SPD in Baden-Württemberg auch richtig, jetzt ein Referendum über Stuttgart 21 abhalten zu wollen, liebe Genossinnen und Genossen. Das ist ein richtiger Vorschlag.

Liebe Genossinnen und Genossen aus Baden-Württemberg, wenn Frau Merkel und die CDU nicht wollen, dass die Bürger über Stuttgart 21 entscheiden können, sondern die Landtagswahl zur Volksabstimmung machen will, dann sage ich: Okay, das ist doch mal eine ordentliche Kampfansage, dann machen wir das mal in Baden-Württemberg!

Lasst uns mal darum kämpfen, dass die Bürger in Zukunft darüber entscheiden können und nicht von Frau Merkel, Herrn Mappus und anderen bevormundet werden, die sich da rumtreiben.

Glaubt mir, ich weiß auch, dass Volksabstimmungen kein Allheilmittel gegen die Müdigkeit der Demokraten sind. Und sie bergen auch Risiken. Aber wir sind eine gewachsene parlamentarische Demokratie. Und wer den Menschen nicht traut, der traut am Ende auch sich selbst nicht. Deswegen, glaube ich, hat Jochen Vogel recht: Das alte Motto „mehr Demokratie wagen“ sollte wiederentdeckt werden. Das hat der SPD noch nie geschadet, liebe Genossinnen und Genossen. Lasst uns das mal wieder ein bisschen deutlicher
in der Öffentlichkeit machen.

Ein zweites Thema, bei dem wir zeigen müssen, was für uns wichtig ist, ist das Thema Aufschwung für alle, gute Arbeit für guten Lohn. Es ist auch fair, dass die Gewerkschaften jetzt sagen: „Wir wollen wieder höhere Lohnabschlüsse.“ Denn sie haben doch auf Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und Lohnbestandteile verzichtet, damit wir durch die Krise kommen. Dann ist es doch nur fair zu sagen: Wenn es jetzt nach vorne geht, dann müssen die Arbeitnehmer davon auch etwas haben, liebe Genossinnen und
Genossen. Das ist doch nichts, wofür man sich schämen muss.

1,3 Millionen Menschen gehen jeden Tag hart arbeiten und müssen danach zum Sozialamt, weil sie ihre Miete nicht bezahlen können. Aufschwung für alle heißt: Ja, auch wir wollen, dass Leute, wenn sie arbeiten, mehr verdienen, als wenn sie nicht arbeiten. Aber wir wollen nicht die Hartz IV-Sätze dafür senken, sondern wir wollen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland haben! Das ist der richtige Weg, auf dem wir vorangehen wollen.

CDU und FDP wollen das sogar noch umdrehen und Harz IV-Empfängern mehr Zuverdienstmöglichkeiten geben. Was wird denn dann passieren? Das ist doch ganz einfach: Der anständige Handwerksmeister, der Tariflohn hat, hat immer mehr Wettbewerber neben sich, die sagen: Nein, meine Leute kriegen Armutslöhne, den Rest können sie sich beim Sozialamt holen. – Nur: wer das alles bezahlen soll, ist die Frage. 11 Milliarden Euro gehen uns dadurch verloren, dass der Staat Niedriglöhne subventioniert. Ich weiß
nicht, wo die liberalen Wettbewerb gelernt haben, aber ein Buch, in dem steht, der Staat soll mit 11 Milliarden Euro Armutslöhne finanzieren, habe ich auch bei Neoliberalen noch nicht gesehen. Aber das machen die dort. Und davon wird es immer mehr geben.

Wenn wir schon bei Hartz IV sind: Die Tickermeldungen sagen: Um 5 Euro will die Regierung die Hartz IV-Sätze erhöhen. Und der Grund dafür ist ganz einfach, liebe Genossinnen und Genossen.

Die Merkel lässt sich gerade von Westerwelle erpressen, das Bundesverfassungsgericht zu missachten. Denn die Richter haben ja nicht dazu aufgefordert, den Hartz-IV-Satz nach Kassenlage zu berechnen, sondern ihnen ging es darum, was ein Mensch in Deutschland für ein Minimum an Teilhabe braucht, für ein würdiges Leben, und vor allem um die gute und vernünftige Förderung der Kinder. Das ist der Auftrag des Verfassungsgerichts. Aber weil Westerwelle zu Beginn des Jahres eine wirklich schamlose Debatte
über Hartz-IV-Empfänger geführt hat, kann er jetzt natürlich einer Erhöhung von Hartz IV im Kabinett nicht zustimmen. Und Merkel macht dieses schäbige Spiel mit.

Wir Sozialdemokraten sagen: Wir wollen das Verfassungsgericht ernst nehmen. Wir werden das Existenzminimum weder nach Kassenlage bestimmen noch nach der Gefühlslage von Herrn Westerwelle. Wir wollen auch nicht über Schnaps und Zigaretten diskutieren, sondern darüber, dass eine Mutter auch einmal ein zweites Paar Schuhe für ihre Kinder kaufen können muss. Darüber wollen wir in Deutschland reden!

Faire Arbeit und fairer Lohn! Es ist nicht das sozial, was Arbeit schafft, sondern sozial ist das, was Arbeit schafft, von der man leben kann, Genossinnen und Genossen. Das ist das Motto der deutschen Sozialdemokratie.

Drittes Thema: Es wird viel zu wenig in die Zukunft unserer Kinder, in Bildung und in gute Chancen investiert.

20 bis 25 Milliarden Euro weniger gibt Deutschland jährlich aus als der Durchschnitt der Industrienationen. Wir sind nicht mal Durchschnitt der Industrienationen, obwohl wir zu den reichsten gehören. 70 000 Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr unsere Schulen, ohne einen Schulabschluss zu haben, mit dem man einen Beruf lernen kann. Das sind fast 20 Prozent aller Schüler. 40 Prozent der ausländischen Jugendlichen – wir haben eine Integrationsdebatte – schaffen keinen berufsqualifizierenden
Schulabschluss. Und übrigens nicht, weil sie zu blöd sind, sondern weil sie nicht von Anfang an gefördert werden.

Statt da mehr Geld reinzugeben, macht die Bundesregierung das Gegenteil: Sie kürzt den Städten und den Ländern die Steuergelder weg, allein 2,8 Milliarden durch ihr seltsames Hoteliersgesetz. Für dieses Geld hätte man 280 000 Kindergartenplätze schaffen oder 70 000 Lehrer einstellen können, und die schmeißen es für Steuergeschenke an Leute raus, die es nicht nötig haben, liebe Genossinnen und Genossen.

Wer, wie die, auf die Idee kommt, ein Programm zu machen, das anderthalb Milliarden kosten soll, und bei dem jede Familie, die ihr Kind nicht in den Kindergarten schickt, 150 Euro bekommen soll, der soll sich bitte in Zukunft in der Debatte zu Bildung und Integration am besten gar nicht mehr äußern, liebe Genossinnen und Genossen.
Worum es wirklich geht, ist, aus Kindertagesstätten Familienzentren zu machen, aus Schulen Ganztagsschulen und in den Ganztagsschulen Bedingungen dafür zu schaffen, dass jedem einzelnen Kind geholfen werden kann – wo kein Kind übersehen wird, wo Kinder sich auch dann angenommen fühlen, wenn zu Hause wenig oder auch gar nichts in Ordnung ist.

Heute sortieren wir Kinder im Zweifel schnell aus. Es gibt ja immer irgendeine Institution, die noch dafür zuständig ist. Ich habe gerade einen Schulpsychologen getroffen, der mir Folgendes erzählt hat:

Ein 16-jähriger Junge ist irgendwie außer Rand und Band. Schwänzt dauerhaft die Schule und verweigert sich jeder Hilfe. Als der Schulpsychologe zufällig mit einem Grundschulleiter spricht, sagt der: „Ach, den kenne ich. Der war mit sechs Jahren auch schon so.“ Der Schulpsychologe fragt: Wie kann das eigentlich sein? Ein Blick in die Schulakte des Kindes zeigt, was da passiert ist in zehn Jahren Schule. Aussortiert worden ist der Junge, bis er endlich ganz unten angekommen ist, bei genauso verirrten
und verwirrten Kindern und Jugendlichen, wie er selbst einer ist.

Mit diesem Aussortieren, Genossinnen und Genossen, muss endlich Schluss sein. Kümmern statt aussortieren! Kümmern ist unser Motto.

Mir kann keiner erzählen, dass mit Kindern im Alter von sechs Jahren nichts mehr zu machen ist. Aber dazu braucht man Ganztagsschulen, die auch genug Lehrer haben, Erzieher, Sozialpädagogen, Krankenschwestern, Psychologen, Musik- und Theaterpädagogen, Sportpädagogen. Bei uns in Deutschland sind die Eltern froh, wenn die Schulen mal eine halbe Sozialarbeiterstelle bekommen haben. Wir wollen wissen, was die Skandinavier anders machen? Ja, das machen sie anders. Die leisten sich das alles an den Schulen.
Warum wollen wir uns das nicht leisten, liebe Genossinnen und Genossen?

Wenn es um oben geht, dann haben wir immer Geld, demnächst wieder 5 Milliarden Euro für Spitzencluster und Exzellenzforschung. Dagegen habe ich gar nichts. Aber warum ist es eigentlich so schwierig, auch einmal für unten Geld zu haben? Wir wissen doch aus dem Sport: Ohne Breitensport gibt es keine Leistungsspitze. Da unten muss schon richtig was los sein. Wenn wir 150 Prozent des heutigen Personals in den sozialen Brennpunkten einstellen würden, dann kostet das nicht mehr als 2 Milliarden Euro.

Wer sehen will, wie viel Erfolg man haben kann, der muss nicht weit fahren. Wer eine gute Bildungspolitik sehen will, die weiß, wofür man richtigerweise Geld ausgibt und wofür nicht, der muss nach Rheinland-Pfalz fahren, wo Doris Ahnen Kultusministerin ist und Kurt Beck regiert. Vielen Dank für das gute Beispiel in Deutschland!

Woher wir das Geld nehmen sollen? Wir müssen den Mut haben, den Peer Steinbrück hatte. Weil er es kurz vor der Wahl gesagt hat, haben wir ihn zurückgepfiffen. Es ist doch Quatsch zu glauben, dass das Leben besser wird, wenn wir das Geld für Mini-Kindergelderhöhungen ausgeben. 10, 20 Euro im Monat bessern doch die Situation der Familien nicht. Hinzu kommt, dass die oben wegen der Freibeträge meistens noch viel mehr bekommen. 4,6 Milliarden Euro hat uns die letzte Kindergelderhöhung gekostet. Hat
irgendeiner den Eindruck, das habe das Land gerechter oder klüger gemacht oder bessere Aufstiegschancen geschaffen? Wir müssen dafür sorgen, dass wir in die Infrastruktur für Bildung investieren. Darüber müssen wir reden.

Und weil ich auch weiß, dass die 20 bis 25 Milliarden nicht nur darüber entstehen können, sage ich: Wir brauchen auch mehr Einnahmen. Egal, wie sich manche öffentlich über die SPD ereifern – wenn wir mehr in Bildung und, so füge ich hinzu, auch mehr in Städte und Gemeinden investieren wollen, dann brauchen wir auch einen höheren Spitzensteuersatz und eine neue Besteuerung von Vermögen. Auch das gilt als anständig.
Das ist übrigens kein Sozialneid. Jeder weiß doch: Menschen werden wohlhabend durch eigene Leistung, aber eben auch dadurch, dass viele andere dazu beitragen. Wenn es dem Land nicht gut geht, wenn das Land Hilfe braucht, dann ist es doch kein Sozialneid, dass man sagt: Hör mal, du hast selber viel geleistet, aber das Land, in dem du aufgewachsen bist, hat auch viel dafür getan, dass du wohlhabend geworden bist. Jetzt musst du mehr helfen als andere. Das ist doch nichts anderes als sozialer Patriotismus,
aber doch kein Sozialneid, liebe Genossinnen und Genossen.

Bildung ist das eine, worum wir uns kümmern müssen. Aber Andrea hat zu Recht gesagt: Es geht auch um die Fortsetzung unserer Familienpolitik, die wieder mehr Partnerschaft, Kinder und Beruf ermöglichen soll.

Das Elterngeld war doch keine Erfindung von Frau von der Leyen oder Frau Schröder, sondern von Renate Schmidt, die, glaube ich, heute leider nicht unter uns ist, und vielen anderen Frauen, die dafür lange gekämpft haben. Die anderen beiden – in der CDU – kürzen das gerade wieder. Daran zeigt sich übrigens die wahre Leidenschaft der beiden Damen.

Aber ich finde, wir können mehr als die Finanzierung der Elternzeit anpacken, denn in der Wahrheit passiert doch Folgendes: Du hast zwischen Mitte 20 und Ende 40 so etwas wie die „rush hour“ des Lebens. In der Zeit sollst Du beruflich viel leisten und Karriere machen, Familie gründen, Kinder bekommen und sie partnerschaftlich erziehen, und etwas für das Alter und demnächst für die Gesundheit zurücklegen, und manchmal kommt auch noch die Pflege der eigenen Eltern dazu. Alles zugleich und alles
unter hohem Druck! – Und wir wissen: Es gibt nicht wenige, die diesem Druck nicht standhalten.

Lasst uns dieses ursozialdemokratische Thema wieder aufgreifen, nämlich die Verbindung von Familie und Beruf. Früher haben wir gesagt: die Verbindung von arbeiten und leben. – Ich weiß nicht, ob Ihr Euch noch an die Kampagne der Gewerkschaften aus den 60er-Jahren erinnert: Samstags gehört Vati mir.
Was sagst Du? „Heute gehört Opi der Partei“, meinst Du?
„Samstags gehört Vati mir“, hieß es, und ein kleiner Junge war abgebildet. Wenn Ihr alte Gewerkschafter reden hört, dann hört ihr, dass sie Euch erzählen, dass es die Fabrikarbeiter und Facharbeiterinnen, die Angestellten, damals als eine ungeheure Befreiung und Bereicherung ihres Lebens empfunden haben, am Wochenende einmal zwei Tage gemeinsam mit der Familie, der Frau und den Kindern ganz normale Dinge teilen zu können, wie den Haushalt, den Besuch auf dem Sportplatz.

Täuscht Euch nicht. Wenn das bei Dir anders war, dann heißt das doch nicht, dass das richtig gewesen ist.

Wo sitzen die Baden-Württemberger? Schickt ihm einmal den Film von Willi Bleicher. Willi Bleicher war Bezirksleiter der IG Metall in Nordbaden-Nordwürttemberg. Er hat einen Film gemacht: „Du sollst Dich nie vor einem lebenden Menschen bücken“. Das war sein Lebensmotto. Darin erzählt er, dass es gut war, dass sie am Samstag einmal mit der Frau einkaufen gehen und sich endlich einmal etwas teilen konnten. Es ist nicht so, dass das alles Patriarchen waren, wie Du einer gewesen bist.

Ich nehme das mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück und behaupte das Gegenteil. Ich sage Dir aber: Es geht darum, arbeiten und leben wieder besser miteinander in Verbindung bringen zu können, und das nicht zu teilen. – Ich finde, das ist ein schönes Thema für die SPD.

Stellt Euch einmal vor: Wenn die Arbeitszeitkonten, die die Gewerkschaften eingerichtet haben, und die jetzt dazu dienen, die Firmen zu retten, irgendwann auch dazu dienen, dass Männer und Frauen die Arbeitszeit anders über ihr Leben verteilen können, damit sie in der Familienphase nicht alles Geld verlieren und trotzdem Zeit für die Kinder haben. Und damit sie, wenn sie älter sind, später aussteigen können: Dann wäre das doch wirklich eine Revolution in der Kultur des Zusammenlebens mit
partnerschaftlichen Familien, liebe Genossinnen und Genossen.

Es geht viertens natürlich auch um Steuern, und vor allen Dingen um Städte und Gemeinden. Ihr wisst: Sie sind chronisch unterfinanziert und oftmals pleite. Lasst uns das am Anfang aber nicht als Finanzdebatte führen, sondern lasst uns noch einmal darüber verständigen, was Städte und Gemeinden eigentlich sind.

Politisch zu handeln, ist etwas anderes, als technokratische Vorstellungen davon zu haben. Sie sind nämlich etwas anderes als nur eine Organisationsform der Abwasserbeseitigung. Sie sind Orte der gesellschaftlichen Integration. Ob Deutsche und Ausländer gut zusammenleben, ob Kinder gut gefördert werden, ob Menschen, die in Not sind, Hilfe erhalten, das steht zwar manchmal in den Bundesgesetzen. Aber ob das gelingt, Genossinnen und Genossen, hängt davon ab, ob die Städte und Gemeinden so ausgestattet
sind, dass sie das auch wirklich anpacken können, und darum müssen wir uns in der SPD wieder kümmern.

Wir haben doch auch bei uns eine Hierarchie eingeführt: Ganz wichtig ist der Bund, ein bisschen weniger wichtig sind die Länder, und die Letzten, die die Hunde beißen, waren die Städte und Gemeinden. – Deswegen sage ich Euch: Das ist falsch, das müssen wir umdrehen. – Im Mittelpunkt unserer Steuerdebatte muss stehen: Wie schaffen wir es, dass wir die Städte und Gemeinden wieder so ausstatten können, dass sie das, was wir ihnen auf die Schultern packen, am Ende auch tragen können? Das muss im
Mittelpunkt unserer Steuerdebatte stehen.

Fragt Euch doch einmal, warum die Menschen sich immer dann engagieren, wenn es um „zu Hause“ geht. Das ist doch klar. Wenn die Welt, wenn Europa, wenn alles immer wichtiger wird, dann wird meistens auch das Kleine wichtiger.

Die aktuelle Shell-Studie sagt: Für junge Leute sind Familie und Freundschaft wieder von großer Bedeutung. Menschen brauchen auch Orte, wo sie sich sicher und aufgehoben fühlen. Es gibt einen altmodischen Begriff dafür. Das ist der Begriff „Heimat“. – Eine gute Heimat zu haben: Dafür sind Gemeinden, Städte und Kreise die besten Orte.
Bist Du der einzige Kommunalpolitiker hier? – Nein.

Ich finde übrigens: Auch bei der anstehenden Debatte über den Kinderregelsatz dürfen wir nicht zu kurz springen. Es ist doch einigermaßen absurd, dass wir hier in Deutschland eine Debatte darüber führen, dass in Zukunft die Jobcenter der Arbeitsagenturen oder der ARGEn darüber entscheiden, ob einer Nachhilfe bekommt oder nicht. Ich meine, das ist doch eine absurde Nummer, die wir hier gerade erleben.

Vielleicht geht das ja im ersten Schritt nicht, aber ich sage Euch: Lasst uns einmal ein bisschen mutiger sein. Lasst uns sagen: Nein, wir wollen das so wie beim Kindertagesstättengesetz machen. Wir haben nämlich ein Gesetz, in dem steht, wer für Kinder und Jugendliche zuständig ist. Lasst uns dafür kämpfen, dass ein Rechtsanspruch auf Bildung und auf Teilhabe für Kinder und Jugendliche ins Kinder- und Jugendhilfegesetz geschrieben wird. So haben wir auch einmal bei der Debatte über die
Kindertagesstätten angefangen.

Hier wollen wir hin, aber lasst uns den Städten und Gemeinden vorher auch das Geld dafür geben – und nicht umgekehrt, wie wir es beim letzten Mal gemacht haben.
Liebe Genossinnen und Genossen, weil sich das in einer Oppositionsrede so leicht sagen lässt, muss man Sorge dafür tragen, dass wir alle uns an den heutigen Tag erinnern, wenn wir wieder regieren.
Deshalb freue ich mich, dass der Oberbürgermeister von Hannover, Stephan Weil, mit anderen gemeinsam diesen Kommunalbeirat begründet hat – da vorne ist der Stephan -, den ich in Dresden zugesagt habe. Das soll nicht ein Beirat nach dem Motto sein: Da hören wir einmal hin. – Wenn wir das ernst meinen, dann müssen wir sie zu jeder Initiative fragen. Sie müssen ein Zutritts-, Rede- und Antragsrecht im Parteivorstand und im Präsidium bekommen, und sie müssen hier auf dem Parteitag berichten, ob wir
uns an unsere Zusagen gehalten haben: Ja oder Nein. So wollen wir das auch in der Satzung verankern. Vielen Dank, Stephan, dass Ihr dabei mitmachen wollt.

Stephan, ich konnte hier ja nicht diesen Rechtsanspruch auf Teilhabe versprechen, ohne darauf hingewiesen zu haben, sonst hättest Du mich hinterher nicht mehr gegrüßt, und ich wollte verhindern, dass Du Dich nachher deshalb zu Wort meldest.

Liebe Genossinnen und Genossen, lasst mich am Ende noch zu einem Thema kommen, das uns natürlich bewegt hat und zu dem ich ein paar Anmerkungen machen will. Ich meine die Debatte um Thilo Sarrazin und den Beschluss des Parteivorstandes, ein Parteiordnungsverfahren gegen ihn einzuleiten.

Ich sage Euch: Wir haben uns das wirklich nicht leicht gemacht, und ich will es mir auch heute nicht leicht machen. – Wir haben als Parteivorstand auch viel Kritik erfahren – auch von SPD-Mitgliedern. Ich jedenfalls rede das nicht klein, weil ich weiß, dass gerade eine Volkspartei wie die SPD natürlich ein großes Meinungsspektrum ihrer Mitglieder haben und aushalten muss. Doch Meinungsfreiheit ist das eine. Eine andere Frage ist, ob eine Partei jede Meinung bei sich dulden soll und dafür öffentlich
in Anspruch genommen werden will.

Thilo Sarrazins Buch beinhaltet eigentlich zwei Bücher. In einem wird Kritik am Integrationsversagen geübt, und es werden auch Vorschläge gemacht, wie man dem entgegentreten kann. Manches davon mag umstritten sein, aber nichts davon wäre ein Grund, ihn auszuschließen. Aber im zweiten Teil seines Buches, liebe Genossinnen und Genossen, fordert er eine Unterscheidung zwischen – so drückt er sich aus – sozioökonomisch wertvollem und in der Konsequenz sozioökonomisch weniger wertvollem Leben. Thilo
Sarrazin verbindet in seinem Buch soziale Fragen mit der Unterscheidung von genetisch erwünschtem und unerwünschtem Leben.

Und die Politik, der Staat, soll Maßnahmen ergreifen, um das sozial und genetisch Gewünschte zu fördern und das Unerwünschte zu reduzieren oder mindestens in ein besseres Verhältnis zu bringen. Das, liebe Genossinnen und Genossen, hatten wir schon einmal in Europa. In Schweden zum Beispiel wurden 60.000 Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts sterilisiert, weil sie zum Teil als asozial galten und ihre Fortpflanzung nicht erwünscht war. Bitter für uns: Es waren schwedische Sozialdemokraten, die dafür
die Verantwortung getragen haben.

Und ganz besonders schrecklich wurde es in Deutschland. Denn die Nazis haben das pervertiert und sich übrigens auf diese bürgerliche und durchaus auch sozialdemokratische Debatte, die es Anfang des 20. Jahrhunderts gab, bezogen. Das Grundgesetz, liebe Genossinnen und Genossen, ist gegen die Verbindung von sozialen mit genetischen Fragen geschrieben worden.

Weil sich auch manche Ältere in der Partei gemeldet haben und gesagt haben: „Macht den nicht zum Märtyrer!“, will ich einen andern, leider vor langer Zeit verstorbenen Sozialdemokraten zitieren, nämlich Carlo Schmid, den großen sozialdemokratischen Intellektuellen und Mitverfasser des Grundgesetzes. Er hatte den Nürnberger Ärzteprozess vor Augen, als er für unsere heute noch geltende Verfassung Folgendes gesagt hat:
„Können wir denn bestreiten, dass all das, was den Nationalsozialismus und alles andere, das die Würde der Menschenwelt verkehrte, nur deswegen möglich wurde, weil wir uns alle an die falsche Lehre gewöhnt hatten (…) (Der Lehre,) der Mensch sei nicht für sich ein Wert, sondern nur (…)für bestimmte – vor allem aus der Staatsraison geschöpfte – Zwecke (…)? Weil wir uns nicht geschämt haben, in ihm (nur) ein „Material“ zu sehen, (…) ein Wesen ohne eigenen Sinn, etwas nur
Zweckdienliches?“

Genau das nie wieder zu tun, nie wieder soziale Fragen mit genetischen zu verbinden, ist eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte Deutschlands und Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ich weiß nicht, wie wenig man das Buch von Thilo Sarrazin gelesen haben muss, um die dort erhobene Forderung nach staatlicher Unterscheidung zwischen gewünschtem oder unerwünschtem Leben zu übersehen. Oder wie wenig man von den Folgen der Verirrungen des 20. Jahrhunderts wissen muss, um ein solches Buch überhaupt zu schreiben. Ich gebe freimütig zu: Ich halte die Wiederbelebung der Eugenik für eine unglaubliche intellektuelle Entgleisung.

Und ich frage mich, was eigentlich einen Sozialdemokraten noch aufregt, wenn nicht das?
Ich verstehe, dass uns viele empfehlen, das einfach nicht so hoch zu hängen, weil sich die Mehrzahl der Menschen für den ersten Teil des Buches sehr interessiert, sich aber mit dem zweiten Teil nicht befasst. Sie sagen uns: Ignoriert ihn und macht ihn nicht zum Märtyrer! Ich weiß, das sind eher gut gemeinte Ratschläge. Aber ich sage Euch – das ist jedenfalls meine Haltung -: Wenn wir das tun, dann werden wir so, wie die meisten Menschen vermuten – dass Parteien und Politiker selbst dann opportunistisch
sind, wenn es um ihre wichtigsten Überzeugungen geht.

Mit der SPD verbindet sich seit 147 Jahren ein aufgeklärtes und emanzipatorisches Bild vom Menschen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten. Daran dürfen wir keinen Zweifel aufkommen lassen.

Es geht aber um mehr als um dieses Buch und um Thilo Sarrazin. Es geht darum, dass wir ein besseres und klareres Bild davon bekommen, welche Erfolge und welche Misserfolge wir in der Zuwanderung und Integration in Deutschland haben, und vor allem darum, was wir aus den Erfolgen lernen können. Denn am guten Beispiel lernt man mehr als am schlechten.

Es gibt unglaublich viele Beispiele für gelungene Integration: In Essen habe ich eine Kindertagesstätte besucht in einem sogenannten „schwierigen Stadtteil“ – hohe Arbeitslosigkeit und hoher Ausländeranteil. Die meisten Kinder kommen dort aus Migrantenfamilien. Erst waren die vielen ausländischen Eltern sehr skeptisch. Dann sind die Erzieherinnen und Erzieher losgegangen und haben im Stadtteil über ihre Arbeit erzählt. Und sie haben vor allen Dingen Migrantinnen als Erzieherinnen und
Sozialpädagogen eingestellt. Der Anteil der Kinder, die die Kita heute besuchen, hat sich drastisch erhöht. Die Kinder können viel besser deutsch, wenn sie in die Schule kommen. Mittlerweile haben die ersten die Schule beendet und wollen jetzt selber Erzieher werden. Das ist doch eine echte Erfolgsgeschichte und für uns ein Beispiel, wie man am Guten lernen kann, liebe Genossinnen und Genossen.

In Bremen hat ein 20-jähriger junger Mann, dessen Eltern aus der Türkei kamen, gerade mit 1,0 Abitur gemacht. Er studiert jetzt Jura, wurde in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen. Er hat bei „Jugend musiziert“ und „Jugend debattiert“ teilgenommen. Er hat bei „Jugend forscht“ einen dritten Platz gewonnen. Er war beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten dabei. Nebenher hat er noch Chinesisch in der Schule gelernt. Und wisst Ihr, was das Beste ist? Er ist
stellvertretender Juso-Vorsitzender in Bremen!

Wo sitzen die Bremer? Ist er eigentlich hier? Habt ihr ihn mitgebracht? – Nein! Dann bestellt ihm einen schönen Gruß. In seinem Alter war ich nicht so gut integriert.
Ich weiß aber auch, dass es das Gegenteil davon gibt. Davor dürfen wir die Augen nicht verschließen: Die hohe Jugendkriminalität unter bestimmten Zuwanderungsgruppen; Parallelgesellschaften, in der die Scharia mehr gilt als das Grundgesetz; Bildungsferne und Schulverweigerung. Aber die Gründe dafür sind vielschichtig und leider schon ziemlich alt: Deutschland hat sich lange geweigert, Zuwanderer zur Kenntnis zu nehmen und zu begreifen, dass wir natürlich Einwanderungsland geworden sind. Es ist
übrigens ein Verdienst von SPD und Grünen, allen voran von Gerd Schröder und Frank Steinmeier, dieses Tabu gebrochen zu haben.

Vor allen Dingen: Nicht nur die Zuwanderer haben sich in Parallelgesellschaften ohne deutsche Sprachkenntnisse und mit wenig Interesse an Integration eingerichtet, sondern es waren auch wir Deutsche, die das ganz bequem fanden. Wir haben uns doch weder für die Sorgen und Nöte noch für die Hoffnungen und Träume, für Bildungsferne oder religiöse Intoleranz so richtig interessiert. Das war deren Sache. Darum sollten die sich kümmern.

Viele Menschen aus Zuwandererfamilien, die zum Teil längst einen deutschen Pass haben, fühlen sich dennoch immer noch nicht bei uns willkommen geheißen. Und sie haben oftmals gute Gründe dafür. Es ist doch nicht so, dass wir keine gut qualifizierten Menschen mit Migrationshintergrund hätten, die nicht auch Schulaufsichtsbeamter, Finanzbeamter oder Abteilungsleiter im Ministerium sein könnten. Und trotzdem finden wir sie in unserer öffentlichen Verwaltung nur in homöopathischen Dosen – auch dort, wo
wir regieren.

Wir haben jetzt sechs Landtagwahlen vor uns. Dem Landesverband, der als erster eine Migrantin oder einen Migranten für ein ganz normales Ministerium aufstellt – nicht für das Integrationsministerium, sondern für Wirtschaft, für Wissenschaft, für Bildung oder Justiz -, wollte ich eigentlich anbieten: Dann kommt der gesamte Parteivorstand und macht Wahlkampf. Ich weiß aber nicht, ob wir Euch damit eher drohen.

Also, mein Vorschlag ist: Wir kommen, wenn Ihr das wollt. Wenn Ihr das macht, dann zahlen wir hinterher die Wahlfete, wenn Ihr die auch ins Kabinett geschafft habt, liebe Genossinnen und Genossen. Da müssen wir jetzt ran. Das ist unsere Aufgabe. Wir müssen ihnen bei uns auch richtig zeigen, dass sie dabei sind.

Liebe Genossinnen und Genossen, manchmal unterschätzen wir auch die Sorgen und Ängste vor dem, was auch wir gerne eine multikulturelle Gesellschaft nennen. Johannes Rau hat im Jahre 2000 dazu das Beste gesagt, was ein Sozialdemokrat dazu bisher gesagt hat. Ich lese es noch einmal vor:

„Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen. (…) Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine ganz andere.“

Und weiter heißt es bei Johannes Rau:
„Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. (…) Ich kann auch verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen Menschen Angst macht. (…) Wer die Sorgen und die Ängste nicht ernst nimmt, redet über die Köpfe der Menschen hinweg und trägt zu einer Haltung bei: Ja, die haben gut reden.“
Genossinnen und Genossen, das hat Johannes Rau auch uns ins Stammbuch geschrieben.

Deshalb müssen wir offen darüber reden. Wir verschließen nicht die Augen vor den Problemen der Integrationsverweigerung. Damit ein Missverständnis weil da vorne unsere Diskutanten sitzen von heute Vormittag aufgehoben wird: Wissen Sie, wenn ich sage, wer sich dauerhaft der Integration verweigert, der kann in Deutschland nicht bleiben, dann meine ich nicht Kinder und Jugendliche. Aber eines sage ich auch: Ich bin mit Hannelore Kraft nach Nordrhein-Westfalen gefahren und habe gegen rechtsradikale
Demonstrationen vor Moscheen demonstriert. Ich wollte die gegen deutsche Rechtsradikale in Schutz nehmen. Ich habe dann hinterher erlebt, dass in einer der Moscheen eine Feier für Herrn Türkesh, einen türkischen Rechtsradikalen, stattfand. Da sage ich: Das ist aber ein Missverständnis.

Ich habe keine Lust, Euch vor deutschen Neonazis zu schützen, damit dort hinterher türkische gefeiert werden. – Das meine ich mit dem Bekenntnis zum Grundgesetz, gelebt und durchgesetzt. Das, finde ich, müssen wir in Deutschland auch durchsetzen, liebe Genossinnen und Genossen.

Jemand, der Kind oder Jugendlicher ist, kann Integration gar nicht verweigern, sondern dem kann man nur – das haben Sie heute Morgen richtig gesagt – helfen, die beiden Seelen, die beiden Identitäten, gut zueinander zu bekommen, und uns hier im Land damit zu bereichern. Darum geht es eigentlich.

Genossinnen und Genossen, ich will einfach nur, dass wir offen darüber reden und dass wir nicht das tun, was draußen stattfindet. Immer, wenn der eine ein kritisches Wort über die jeweils andere Seite der Debatte sagt, dann zucken alle zusammen. Ich finde, das muss in der SPD gar nicht sein. Wir haben nämlich wunderbare Beispiele dafür, was wir alles richtig gemacht haben und was wir an Beiträgen geleistet haben. Für den Umgang mit den vorhandenen Integrationsproblemen wird es nämlich keine
Bilderbuchlösung geben. Es wird auch nicht gelingen, irgendeinen Schalter schnell umzulegen. Wir sollten ehrlich sagen: Nicht alle Probleme werden wir in den Griff bekommen, wie wir auch in der deutschen Gesellschaft nicht alle Probleme in den Griff bekommen haben.

Fördern – vor allem bei Kindern und Jugendlichen – ist das Wichtigste. Forderungen gehören dazu. Aber die Menschen müssen auch gewiss sein, dass sie sich trotz aller Anstrengungen und Integrationsbereitschaft hinterher nicht doch schlechtere Chancen in unserem Land einhandeln. Dort, wo alles fördern und fordern nicht hilft, da brauchen wir keine neuen Gesetze.

Aber die bestehenden, liebe Genossinnen und Genossen, müssen wir schon anwenden, und zwar bei Deutschen wie bei Ausländern.

Auch dafür gibt uns Johannes Rau in seiner Rede unter der Überschrift „Ohne Angst und Träumereien“ den richtigen Rat:

„Zu den schädlichen Folgen von Ghetto- und Cliquenbildung, von misslungener Integration, von Aussichtslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, von sozialer Randständigkeit gehören Gewalttätigkeit und Kriminalität. (…) Es stimmt (…), dass vor allem jüngere, männliche Ausländer und Aussiedler überdurchschnittlich an Straftaten und Gewalttaten beteiligt sind. Sie müssen, wie alle anderen Straftäter auch, nach Recht und Gesetz – und möglichst schnell – bestraft werden. Die Statistik zeigt aber auch
ganz deutlich: Wo Integration – durch Bildung, Ausbildung und Arbeit – gelungen ist, da sind Gewalt und Kriminalität bei jungen Ausländern nicht stärker verbreitet als bei jungen Deutschen.“

Und als Letztes fügt er hinzu:
„Übrigens: ein Skinhead mit Springerstiefeln wirkt auf mich auch dann nicht weniger gefährlich, wenn er womöglich einen deutschen Pass hat.“

Liebe Genossinnen und Genossen, ich glaube, das ist eine gute Entwicklung.
Lasst uns dem Rat von Johannes Rau, und übrigens guten Beispielen für Integration bei Heinz Buschkowsky, folgen. Das sind Ratgeber, die weit besser sind als das Buch von … – na, Ihr wisst schon!

Liebe Genossinnen und Genossen, wir haben nach elf Jahren Regierungsverantwortung unsere Rolle gefunden, schneller, als es viele gedacht haben. Das heißt aber nicht, dass wir zufrieden wären. Die SPD ist wieder da: Das haben wir bewiesen. Wir können nicht nur opponieren, sondern auch Wahlen gewinnen. Aber, Genossinnen und Genossen, da geht noch mehr im nächsten Jahr.

Das ist gelungen, weil Ihr alle mitgemacht habt. Stellvertretend für alle, die mich dabei aushalten müssen, möchte ich Andrea Nahles und Frank Steinmeier für Andrea, ich sage das einmal zurückhaltend eine ziemlich große Geduld bei Euch und bei allen anderen herzlich bedanken.

Bei Andrea sollten wir uns dafür bedanken, dass sie jetzt auch ganz persönlich dem Mitgliederschwund in der SPD entgegenarbeitet. Liebe Andrea, herzlichen Dank!

Apropos Mitgliederzahlen: In den letzten zwölf Monaten sind über 17.000 Mitglieder neu in die SPD eingetreten. Davon sind 50 Prozent unter 35, liebe Genossinnen und Genossen!
Die meisten treten über das Internet ein. Das zeigt übrigens, dass die Ortsvereinsstruktur oft nicht die ist, die sie an uns bindet. Darüber werden wir reden. Wir wollen ein paar Tausend von denen nach Berlin einladen, und wir wollen sie zu Botschafterinnen und Botschaftern der SPD machen. Wenn sie dann ein Jahr später wiederkommen und jeder nur zwei neue Mitglieder geworben hat, dann sind wir wieder auf dem richtigen Pfad. Wir brauchen wieder Botschafterinnen und Botschafter für die Mitgliedschaft in
der traditionsreichsten, demokratischsten und freiheitlichsten Partei, die Deutschland je hatte, in der SPD, liebe Genossinnen und Genossen.

Wir haben uns noch viel vorgenommen. Ich hatte Euch ja versprochen, dass es anstrengend wird. Aber in Wahrheit ist das Einzige, was wir für all dies brauchen, liebe Genossinnen und Genossen, Mut! Mut und Konzentration auf das Wesentliche.

Es stimmt nicht, dass die Politik ganz allgemein weniger zu entscheiden hätte. Früher haben wir uns nur mehr getraut. Und das müssen wir jetzt auch wieder tun. Zur Politik gehört auch der Mut, etwas zu wagen. Dann übrigens macht Politik auch wieder mehr Spaß, gerade in der SPD. Unsere Politik besteht darin, sozialdemokratische Werte und Prinzipien, von denen die ganze Gemeinschaft lebt, wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Klarheit, mit Konsequenz und übrigens auch mit Leidenschaft. Machen wir
uns wieder an die Arbeit! Alles Gute und Glück auf für Euch.

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