Antrittsrede des Präsidenten des Bundesrates
Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen
Bürgermeister Jens Böhrnsen, am 6. November 2009, im Bundesrat
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren
Meine Wahl zum Präsidenten des Bundesrates erfolgte turnusgemäß und einstimmig. Dafür danke ich Ihnen.
Meinem Vorgänger, Ministerpräsident Peter Müller, danke ich – auch im Namen des ganzen Hauses – für seine umsichtige Amtsführung und die kollegiale Zusammenarbeit im Interesse aller Länder.
Anrede
Die vor mir liegende Amtszeit wird eingerahmt vom 9. November 2009 und dem 3. Oktober 2010: 20 Jahre Mauerfall und 20 Jahre deutsche Einheit.
Wir erinnern uns an den Tag und die Nacht, als die Mauer fiel.
Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte waren nicht militärische Stärke oder Druck von außen verantwortlich für den Zusammenbruch eines Unrechts-Regimes. Die Menschen in Ostdeutschland selbst hatten das Heft in die Hand genommen, friedlich und solidarisch; nicht nur in Berlin, sondern in vielen großen und kleinen Städten der damaligen DDR.
Das Wunder war tatsächlich wahr geworden: Zu Tausenden strömten die Menschen in den Westen, ganze Trabi-Kolonnen bewegten sich durch die Straßen, überall herrschte ausgelassene Freude, Enthusiasmus. Das sind die Bilder, die wir vor Augen haben; Bilder, die sich unauslöschlich eingeprägt haben. Jeder von uns weiß, wo und wie er die Nachricht vom Mauerfall gehört hat.
Anrede
Wir wollen aber auch nicht vergessen, welch großes persönliches Risiko die Menschen eingegangen sind, die in der ehemaligen DDR den Protest angeführt haben oder auch nur dabei waren, ungeschützt, verletzbar.
Ohne diese Helden der friedlichen Revolution wäre der 9. November 1989 nicht möglich gewesen.
Mit der Einheit sind wir auch nach 20 Jahren noch nicht ganz am Ziel, aber schon sehr weit. Deshalb bitte ich herzlich, die Mängel nicht zu überhöhen und die Erfolge nicht klein zu reden.
Für viele junge Leute, die nach dem Mauerfall geboren wurden, ist die Einheit schon eine Selbstverständlichkeit. Eine große Sonntagszeitung hat vor einigen Wochen Zahlen veröffentlicht: 80 Prozent der 14- bis 19jährigen teilen die Welt nicht mehr in Ost und West, sie fühlen sich als Gesamtdeutsche.
Meine Damen und Herren
Bei aller Erinnerung an die Wende wollen wir am 9. November auch an ein anderes Datum der deutschen Geschichte denken und damit an das unsägliche Grauen der Nazizeit. In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden überall in Deutschland Synagogen angezündet und verwüstet, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger ermordet und verschleppt.
So wie wir den jungen Menschen unsere Freude über den Mauerfall vor 20 Jahren nahe bringen, so dürfen wir nicht nachlassen, die Erinnerung an die Opfer des Nazi-Terrors wach zuhalten.
Ein Beispiel, dies zu erreichen, ist die „Nacht der Jugend“, die nun schon zum 12. Mal am 9. November in unserem 600 Jahre alten Rathaus in Bremen stattfindet. An diesem Tag gehört das Rathaus Tausenden von Jugendlichen, die informieren und diskutieren, die Ausstellungen und Workshops organisieren, die mit Musik, Tanz und Theater gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit kämpfen.
Geplant und organisiert wird diese „Nacht der Jugend“ das ganze Jahr über von circa 500 Jugendlichen, die hier erfahren, welche Chancen die Demokratie bietet. Sie haben wie so viele andere Menschen, die sich in ähnlicher Weise für die Gemeinschaft einsetzen, verstanden, dass Demokratie keine Zuschauer-Staatsform, sondern eine Mitmach-Einrichtung ist.
Sie könnten Vorbild sein für viele Menschen, die sich nicht mehr von der parlamentarischen Demokratie und ihren Institutionen angesprochen fühlen.
Mir macht die zunehmende Politikmüdigkeit Sorgen, die sich in mangelnder Wahlbeteiligung zeigt und dem Fehlen aktiver Parteinahme. Die Demokratie ist nicht bedroht von zu vielen Extremisten, sondern von zu wenig Demokraten. Sie muss von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt und gelebt werden.
Für mich gehören Vertrauen und Glaubwürdigkeit zum unersetzbaren Handwerkszeug, damit Politik und „die Politiker“ wieder mehr Zugang zu den Bürgerinnen und Bürgern finden, um diese zum Mitdenken und Mitmachen zu ermutigen.
Die Politik darf nicht das Gefühl vermitteln, sie sei für alles zuständig und könne alles regeln, sondern sie muss gründen in dem ehrlichen Bemühen, für die Menschen und deren Probleme da zu sein. Dazu gehören klare Wahlaussagen, die gehalten werden; keine Versprechungen, die nicht zu erfüllen sind.
Diese einfachen Regeln kennen in der Politik die meisten, aber der harte Wettbewerb erschwert es, sich daran zu halten. Ein Teufelskreis, aus dem wir angesichts schwindender Wahlbeteiligungen heraus finden müssen.
Und es geht nicht nur um Wahlbeteiligung. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger ermutigen und auffordern: „Mischen Sie sich bitte ein“. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat es auf den Punkt gebracht: „Wer nicht handelt, der wird behandelt“.
Meine Damen und Herren
Der 9. November 2009 und der 3. Oktober 2010 bilden den Rahmen der Bremer Amtszeit – dazwischen aber liegt ein anstrengendes und arbeitsreiches Jahr.
Denn 2009 und 2010 sind nicht nur Jahre zahlreicher Jubiläen, die es würdig zu feiern gilt, sie sind auch gekennzeichnet von großen Problemen, an deren Lösung wir gemeinsam hart werden arbeiten müssen.
Es ist zwar nicht die Aufgabe des Bundesratspräsidenten, eine Regierungserklärung abzugeben oder ein politisches Programm anzukündigen, das er in den nächsten zwölf Monaten umsetzen möchte.
Dies ist aber die Gelegenheit, einige der drängenden Aufgaben hervorzuheben, die den Verantwortlichen in Bund, Ländern, Städten und Gemeinden gemeinsam auf den Nägeln brennen.
Als Vertreter eines Stadtstaates kann ich sogar aus zwei Positionen unmittelbare Nähe zu den berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger unseres Gemeinwesens reklamieren, und damit nicht nur für die Länder, sondern besonders auch für die großen Städte und Metropolen Handlungsbedarf anmelden.
Diese Schwerpunkte drängen sich als gemeinsame Aufgaben auf:
Der schwindende finanzielle Spielraum, der den Gemeinden angesichts gesetzlicher Aufgaben und sinkender Steuereinnahmen noch bleibt, um die Stadt lebenswert zu erhalten – eine große Zeitung titelte sogar schon, es werde „zum Aufstand der Städte“ kommen.
Die Integration der Menschen, die aus anderen Ländern mit anderen Erfahrungen zu uns gekommen sind, und auf Dauer bei uns leben.
Die Sicherung der Bildungschancen für unsere Kinder von der KiTa, über die Schulen bis zu den Fachhochschulen und Universitäten, aber auch faire Ausbildungschancen und Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen.
An erster Stelle stehen die Wirtschafts- und Finanzkrise und der Umgang mit ihren Folgen.
Der Bundesrat hat dabei eine klare und konstruktive Rolle gespielt. Ministerpräsident Müller hat es in der vergangenen Sitzung angesprochen.
Noch ist die Krise nicht vorbei.
Im kommenden Jahr wird das zentrale Thema die Bewältigung der finanzpolitischen Folgen in den öffentlichen Haushalten sein und wieder wird der Bundesrat eine gewichtige Rolle spielen.
Dass viele Kollegen aus diesem Hause sich zu den Steuerplänen der Bundesregierung kompetent und entschieden geäußert haben, kann nicht verwundern.
Denn in den Ländern und Kommunen kommen die Auswirkungen von Einnahmeausfällen unmittelbar an. Finanzpolitik hat hier ganz konkrete Auswirkungen auf die Möglichkeiten, die den Ländern und Kommunen bleiben, um ihre Aufgaben – gerade auch die Zukunftsaufgaben – bewältigen zu können.
Wir sollen und wir wollen etwas tun für den Ausbau der Kinderbetreuung.
Wir sollen und wir wollen etwas tun für die Steigerung der Leistungsfähigkeit unseres Bildungswesens.
Gleichzeitig sollen und würden wir gern aber auch die Schuldengrenzen einhalten.
Wie wir das gleichzeitig bei massiven Steuersenkungsprogrammen, die in unseren Haushalten ankommen, leisten können, ist für mich zurzeit noch nicht nachvollziehbar – ich glaube, da sollen wir mehr, als wir wollen können.
Anrede
Bund und Länder teilen sich die staatliche Verantwortung, auch und gerade in der Krise.
Wir Länder sind bereit, unseren Teil der Verantwortung zu übernehmen; dazu müssen wir aber auch einbezogen und unsere existentiellen Interessen angemessen berücksichtigt werden.
Vor diesem Hintergrund wird der Bundesrat nach meiner Auffassung im kommenden Jahr sehr nachdrücklich seine traditionelle und natürliche Rolle als Interessenvertreter der Länder und Sachwalter der Kommunen ausfüllen.
Meine Damen und Herren
Wichtig ist mir, neben den Finanzen ganz bewusst das Thema Integration als gemeinsames Handlungsfeld von Bund, Ländern und Kommunen anzusprechen.
Wir machen in den Stadtstaaten wie in allen Großstädten eine Erfahrung: in ganzen Stadtteilen hat sich das Zahlenverhältnis der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund zu den Eingewanderten seit den sechziger Jahren glatt umgekehrt. Diese Zuwanderung trägt Chancenreichtum, insbesondere auch eine kulturelle Bereicherung in sich, gleichwohl dürfen wir nicht über Probleme hinwegsehen.
Wir müssen ehrlich feststellen: das ernsthafte Bemühen um Integration war nicht immer von den erwünschten Erfolgen begleitet. Deshalb ist nicht nur das offene Erkennen von Mängeln nötig, sondern auch der Wille, Integrationspolitik immer mehr zu einem Kern der politischen Tagesordnung und des Verwaltungshandelns zu machen. Mit dem ernsthaften und nachhaltigem Willen beider Seiten, aufeinander zuzugehen.
Integration ist die Alternative zu einem unverbindlichen – oder sogar konflikthaften – Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Sie bedeutet die Bindung an gemeinsame Werte.
Sie beinhaltet die Erwartung, unsere offene Gesellschaft nach dem Leitbild des Grundgesetzes mit zu gestalten.
Sie ist nicht nur zwingend angesichts der demographischen Veränderungen, die wir erleben, sondern auch zwingend unserem Menschenbild geschuldet.
Meine Damen und Herren
Die Themen Kinderbetreuung, Bildung, Ausbildung und Hochschulen als zentrale Zukunftsthemen haben uns schon in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt. Das wird sich so fortsetzen. Wir haben dazu gemeinsam mit dem Bund umfangreiche Maßnahmenpakete verabredet.
Trotz aller Finanzprobleme müssen wir hier Farbe bekennen und Schwerpunkte setzen. Die Kinder, die hier aufwachsen, sind unsere Zukunft. Die konkreten Lebensumstände, die Armut vieler Kinder, die geringen Chancen und Perspektiven vieler Jugendlicher, besonders vieler mit Migrationshintergrund, und insgesamt die ungleichen Bildungschancen dürfen wir nicht einfach hinnehmen.
Es ist nicht akzeptabel, dass Bildungschancen bei uns – weit mehr als in den vergleichbaren Staaten Europas – vor allem von der sozialen Herkunft geprägt sind.
Ideen zur Verbesserung der Situation gibt es genug. Manchmal sind es sogar scheinbar einfache Dinge wie ein verlässliches Frühstück oder ein kostenloses Mittagessen. Es kommt aber darauf an, diese Dinge auch zu tun.
Die anstehenden Aufgaben müssen und dürfen uns nicht schrecken. Der Föderalismus hat sich in seiner langen Geschichte immer wieder als flexibel genug erwiesen, neue Situationen erfolgreich zu meistern. Er leistet das Austarieren zwischen gesamtstaatlichen Interessen und Zwängen und der kulturellen und politischen Vielfalt der Länder und Regionen.
Föderalismus ist insofern nicht Problem, sondern Lösung.
Föderalismus muss dabei stets auf Konsens und Kompromiss angelegt sein, wie sich das auch im sachlichen und ergebnisorientierten Stil dieses Hauses widerspiegelt.
Anrede
Ich wünsche mir sehr, dass wir im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unserer Städte und Länder zusammen arbeiten bei den Problemen, die sich unserem Gemeinwesen stellen, und die wir gemeinsam zu beraten und zu meistern haben.
Auf gute Zusammenarbeit!