Emotionale Reise nach Palermo

Der Schatten im Mond: Roman der Zeitgeschichte von Barbara Herrmann

Nach dem Tod ihrer Mutter findet Jolanda in deren Nachlass eine Schatulle mit Briefen und Fotos. Ihre vermeintlich heile Welt stürzt ein, als sie erfährt, dass ihre verstorbenen Eltern gar nicht ihre leiblichen Eltern waren. Sie begibt sie sich auf die Reise in den Schwarzwald und nach Sizilien, um die Familiengeheimnisse ihrer Adoptivmutter zu lüften und ihre richtigen Eltern zu finden. Bei ihrer Suche tun sich ungeahnte menschliche Abgründe auf, die sich noch über Jahrzehnte bis in die Gegenwart auswirken.

Ein bewegender Roman über eine Familie, die den strengen und althergebrachten Werten sowie den Vorurteilen gegenüber den italienischen Gastarbeitern zu Beginn der Sechzigerjahre Tribut zollen muss, auf diese Weise ihren inneren Zusammenhalt verliert und letztendlich daran zerbricht.

Leseprobe:

Jolanda hatte soeben eingecheckt und fuhr mit dem Fahrstuhl auf ihr Zimmer. Sie hatte es gut getroffen, stellte sie nach einem prüfenden Blick fest. Alles war in Ordnung. Gleich nach dem Frühstück setzte sie sich in ein Taxi und ließ sich zu der Adresse fahren, die Franco ihr gegeben hatte. Der Fahrer schaute sie mit großen Augen an. Sein Blick wirkte überrascht, als sie die Adresse nannte, aber er sagte nichts.
Während der Fahrt fiel ihr wieder ein, dass Franco nicht wusste, wie Helene wohnte und lebte. Er hatte sie nur wenige Male gesehen, als sie sich damals um die Rückenmarkspende kümmerte. Danach telefonierten sie vielleicht einmal im Jahr. Franco meinte, dass er das tun müsse, weil er ihr so viel zu verdanken habe. Anscheinend ging es ihr ja gut, zumindest sagte sie das immer, wenn er anrief.
»Wir sind gleich da«, sagte der Taxifahrer. »Wollen Sie wirklich alleine da hingehen?«
»Wieso? Wie meinen Sie das?«
»Na, die Gegend besucht man als Tourist doch nicht freiwillig. Und schon gar nicht als Frau ohne Begleitung.«
Jolanda stand der Mund offen. »Halten Sie sofort an.«
Der Fahrer stoppte. »Sie wussten das nicht?«
»Nein. Ich habe die Adresse in Taormina bekommen. Eine Schwester meiner verstorbenen Mutter soll da wohnen. Eigentlich dachte ich, dass es eine Villengegend ist, nach dem, was man mir erzählt hat.«
»So kann man das auch nennen«, antwortete der Taxifahrer trocken.
»Cortile-Cascino kennt doch jeder. Mein Auto würde ich da nicht lange unbeaufsichtigt stehen lassen.«
»Aber ich habe ja nur einen Straßennamen und nicht den Namen eines Stadtteils. Das macht mich jetzt aber sprachlos.« Jolanda saß wie versteinert da. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ob sie besser ins Hotel zurückfuhr, Helene anrief und sie um ein Treffen bat? Aber wenn es ihr so schlecht ging, dass sie hier in dieser Gegend wohnte, dann würde sie sich nicht freiwillig zeigen, überlegte Jolanda.
Sie beugte sich nach vorne. »Würden Sie mir helfen, indem Sie mich zu der Adresse fahren und mich bis zur Tür begleiten? Wenn sie nicht öffnet oder nicht mit mir sprechen möchte, will ich wieder mit Ihnen zurückfahren. Es ist mir sehr wichtig, mit der Frau zu reden, weil ich meine Eltern suche.«
»Ja, das können wir so machen.« Der Fahrer startete den Wagen und fuhr weiter. Je mehr Straßen sie durchquerten, desto ängstlicher wurde Jolanda, desto mehr krallte sie sich an ihrer Tasche fest. Das konnte doch nicht wahr sein, grübelte sie. Was war denn mit dieser eleganten Frau geschehen? Sie schaffte es fast nicht mehr, aus dem Wagenfenster zu blicken. Die armen Kinder am Straßenrand, die ihnen mit großen Augen hinterhersahen, die verhärmten alten Frauen und Männer, die aus den Fenstern schauten, und die rauchenden Jugendlichen, die mit ihren zerschlissenen Kleidern in Gruppen zusammenstanden. Es tat weh.
»Wir sind da«, sagte der Fahrer irgendwann. »Kommen Sie, ich bringe Sie rein.«
Zum Glück mussten sie nur eine Treppe in dem mehrstöckigen Haus hochsteigen, bis sie Helenes Namen an einer der vielen Türen entdeckten. Jolanda drückte die Klingel. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und eine Frau blickte ihnen entgegen. »Was ist?«, fragte sie ein wenig barsch.
»Sind Sie Helene?« Jolanda wusste aber bereits die Antwort, und die Erkenntnis erschütterte sie bis ins Mark. Diese Frau sah aus wie Florentine – aber nur, was die Gesichtszüge anging. Alles andere entsetzte sie.
»Ja, und wer sind Sie?«
»Ich bin Jolanda, Florentines Tochter. Kann ich Sie sprechen? Ich komme gerade von Franco.«
Helene wurde weiß wie eine Wand. Ihre rechte Hand zitterte, und mit der linken fasste sie sich an die Brust. Jetzt erst sah Jolanda, dass sie einen Stock als Gehhilfe in der rechten Hand hielt. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, während sie krampfhaft versuchte, den Stock ruhig zu halten. »Ich weiß nicht, was wir miteinander besprechen sollten. Es ist besser, Sie gehen gleich wieder.«
»Nein, das finde ich nicht!«, rief Jolanda entschlossen.
»Bitte reden Sie mit mir.«
»Ich bin nicht auf Gäste eingestellt, wie Sie sicher schon unten auf der Straße gesehen haben.« Helene blickte verschämt zu Boden.

Der Schatten im Mond
Barbara Herrmann

ISBN – Print 978-3-740712594
ISBN E-Book 978-3-740736705

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