Rede von Andrea Nahles beim außerordentlichen Bundesparteitag der SPD am 26.09.2010

Rede der Generalsekretärin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Andrea Nahles beim außerordentlichen Bundesparteitag der SPD

am Sonntag, dem 26. September 2010,
in der STATION, Berlin

– Es gilt das gesprochene Wort –

Draußen vor dem schönen Gebäude, in dem wir uns hier befinden, sind 1 Million Menschen auf der Straße. Wir haben Berlin-Marathon, und ich finde, wir sollten von hier aus unsere sozialdemokratischen Läuferinnen und Läufer, die im SPD-Trikot mitlaufen, anfeuern.

Diese Läuferinnen und Läufer sind mittendrin, und auch unser heutiger Parteitag ist mittendrin. Wir sind mittendrin im Erneuerungsprozess unserer Partei. Dazu passt es übrigens auch ganz gut – das habt Ihr ja sicherlich schon gemerkt –: Wir sind nicht im Estrel, und wir müssen auch keine Katastrophen bewältigen. Nein, wir sind einfach hier zum Diskutieren und Arbeiten, und Ihr alle seid gekommen. Herzlich willkommen in Berlin.

Ich möchte zunächst jemanden begrüßen, der leider heute hier nicht sein kann und den wir ganz besonders vermissen: Frank-Walter Steinmeier.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe mit Frank gesprochen, und er hat mich gebeten, Euch herzliche Grüße von ihm und von seiner Frau Elke auszurichten. Beide machen gute gesundheitliche Fortschritte, und beide haben sich sehr über die vielen Genesungswünsche und die große Anteilnahme gefreut, die ihnen entgegengebracht wurde. Lieber Frank-Walter, wir wünschen Dir und Deiner Frau Elke von ganzem Herzen gute Genesung.

Liebe Genossinnen und Genossen, wir haben als Partei turbulente Zeiten hinter uns. Wir wissen, dass viele Anhänger an uns gelitten haben. Vor knapp einem Jahr haben wir bei der Bundestagswahl einen Weckruf erhalten, der uns in den Ohren wehgetan hat, und seit einem Jahr sind wir deswegen nicht nur dabei, uns zu kurieren. Wir wollen uns besser aufstellen als jemals zuvor. – Ich darf sagen: Nach einem Jahr haben wir auch schon ein paar Dinge geschafft. Wir stehen geschlossen dar, liebe Genossinnen und
Genossen.

Wir haben gemeinsam Positionen entwickelt, und wir lassen uns nicht mehr auseinanderdividieren. Ich verspreche Euch: Das wird in Zukunft so bleiben, liebe Genossinnen und Genossen.

Das Zweite, was wir geschafft haben: Wir haben auch für uns kritische und schwierige Fragen solidarisch miteinander geklärt. Ich nenne das Beispiel Rente mit 67. Viele von uns treibt bei diesem Thema ja die Sorge um, dass aufgrund des steigenden Lebensalters die Rente nicht mehr finanzierbar bleibt. Das kann ich gut nachvollziehen. Andere fragen aber: Wo gibt es denn die gute Arbeit für Ältere in Deutschland überhaupt?

Kürzlich ging ein Fall einer 49-jährigen Rechtsanwaltsgehilfin aus Heidelberg von der Uniklinik Heidelberg durch die Presse. Sie wurde mit ihren 49 Jahren intern als zu alt abgemeiert. Da sage ich einmal klipp und klar: Solange es in Deutschland noch Arbeitgeber gibt, die so etwas denken, und solange nur 20 Prozent der über 60-Jährigen eine Vollzeitarbeit wahrnehmen können, ist die Erhöhung des Rentenalters schlichtweg eine Rentenkürzung, und deswegen kann sie nicht wie geplant beginnen, liebe
Genossinnen und Genossen.

Mit dieser Entscheidung, die wir hier getroffen haben, knüpfen wir an die konkreten Erfahrungen vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und ich freue mich deswegen ganz besonders, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften hier heute so zahlreich vertreten sind. Herzlich willkommen, lieber Michael Sommer.

Herzlich willkommen, lieber Uli Freese, lieber Alexander Kirchner, lieber Franz-Josef Möllenberg, lieber Konni Freiberg, lieber Dietmar Schäfers und nicht zuletzt liebe Margret Mönig-Raane. Ihr seid uns alle sehr willkommen.

Der Dresdner Parteitag hat übrigens auch einen Startschuss für einen Kulturwandel in unserer eigenen Partei gegeben. Ich will deswegen heute hier nicht nur prominente Gäste begrüßen, sondern auch Genossinnen und Genossen, die durch ihre Arbeit das eigentliche Kraftzentrum unserer Partei sind. Und die diesen Kulturwandel verkörpern.

Deswegen begrüßen wir den Abteilungsvorsitzenden aus Berlin-Friedrichshain, Sven Heinemann. Lass Dich mal sehen.

Da lohnt es sich, zu klatschen, liebe Genossinnen und Genossen. Im vergangenen Jahr hat seine Abteilung 60 neue Mitglieder aufgenommen. Insgesamt sind es jetzt 350, und das Beste kommt noch: Das Durchschnittsalter ist 35 Jahre. Das ist wirklich einen Applaus wert.

Das kommt nicht von selbst, sondern die Friedrichshainer sind wirklich vorbildlich. Sie machen originelle Veranstaltungen, zum Beispiel Politik und Kino – daran habe ich selber auch einmal teilgenommen -, mit vielen Hunderten von Zuschauern. Sie haben sich auch an unserem Wettbewerb „Zukunftswerkstatt faires Deutschland“ beteiligt, wo wir neue Veranstaltungsformen ausprobieren, weg vom Hinterzimmer, hin zum lebendigen Austausch.

Sven hat mir gesagt: „Wir müssen raus zu den Menschen. Sie müssen merken, dass wir es ernst mit ihnen meinen und sie wirklich gewinnen wollen“. – Danke, Sven.
Ich möchte auch Jorge Lopez ganz herzlich begrüßen. Er ist in die SPD eingetreten, und zwar nach unserer ersten Bürgerkonferenz. Lieber Jorge, herzlich willkommen auf dem Parteitag und herzlich willkommen in der SPD.

Jorge ist Jugendvertreter bei der Berliner Stadtreinigung. Zur Begründung, warum er jetzt eingetreten ist, hat er mir gesagt: Die Bürgerkonferenz hat mir gezeigt, dass sich die Politiker der SPD wirklich für mich interessieren und dass sie auf meine Stimme hören. Das ist auch das Motto für unsere weitere Arbeit. Vielen Dank, Jorge.

Ich begrüße Inka Damerau aus Hamburg. Inka, lass Dich mal sehen. Herzlich willkommen.

Inka war die Vertreterin bei unserem Bündnis „Ketten-Reaktion“ unter dem Motto: „Atomkraft abschalten“. Sie hat geholfen, die Menschenkette am 24. April vorzubereiten, an der 120 000 Menschen teilgenommen haben. Sie war mit ihrem Mann natürlich auch hier auf der Demo in Berlin.

Ich sage: Dieser Schulterschluss zwischen der Anti-Atomkraft-Bewegung, den Umweltverbänden und den Parteien gegen die schwarz-gelbe Energiepolitik war wichtig und hat Spaß gemacht.

Inka hat mir gesagt, für Themen, die uns wichtig sind, müssen wir wieder auf die Straße gehen und Flagge zeigen. So ist es. Vielen Dank, Inka!

Ich begrüße den Genossen Herbert Weißbrod-Frey. Du hast Dich bei uns ganz maßgeblich für die Anti-Kopfpauschalen-Kampagne engagiert, bei der wir schon 135.000 Unterschriften gesammelt haben. Herbert hat mir gesagt: Gewerkschaften können Dampf machen, aber wenn sie wirklich etwas bewegen wollen, brauchen sie eine starke Volkspartei. Und das sind wir, liebe Genossinnen und Genossen. Vielen Dank, Herbert!

Wir alle sind gefragt. Wir müssen wissen, wo Menschen der Schuh drückt, wir müssen diskussionsfreudig und Lernpartei sein. Diese Haltung müssen wir – das kündige ich auch an – angesichts der im nächsten Jahr anzugehenden Parteireform in unserer Partei stärker verankern. Vieles in unserer Partei ist eingespielt; das meine ich im guten Sinne. Aber manches ist auch eingestaubt. Mit den Strukturen der 70er-Jahre können wir im Jahr 2013 nicht mehr bestehen, liebe Genossinnen und Genossen. Mir geht es
dabei nicht nur um Satzungsänderungen, sondern mit geht es um ein neues Organisationsverständnis. Deshalb schlage ich vor, dass wir beim Parteitag im nächsten Jahr ein organisationspolitisches Grundsatzprogramm diskutieren, das ähnlich wie das Hamburger Programm breit in der Partei debattiert wird.

Ein Programm, das Mitglieder und Nicht-Mitglieder ermuntert, sich einzubringen. Denn schließlich sind wir – anders als Klientelparteien – im wahrsten Sinne des Wortes Volkspartei, nämlich die linke Volkspartei in Deutschland.

Ich darf an dieser Stelle ganz herzlich Werner Faymann begrüßen, den österreichischen Bundeskanzler und Parteivorsitzenden unserer Schwesterpartei SPÖ. Herzlichen willkommen!

Lieber Werner, wir wissen, das besonders zu schätzen; denn Du hast heute Landtagswahl in der Steiermark. Dass Du trotzdem hier bist, freut uns besonders. Wir freuen uns auch, dass Du nachher das Wort an uns richten wirst.

Liebe Genossinnen und Genossen, herzlich begrüßen möchte ich auch Hans-Jochen Vogel.

Lieber Hans-Jochen, ich möchte Dir für Deine wirklich beeindruckende Rede gestern danken. Wir haben gestern über die friedliche Revolution vor 20 Jahren gesprochen. Damals wurde Demokratie erkämpft. Heute geht es darum, sie zu leben. Und lebendig geht es derzeit überall in Deutschland zu. Immer mehr Menschen allen Alters und aller Schichten gehen auf die Straße. Wir erleben in nie gekanntem Maße Volksentscheide in den Ländern – zum Beispiel Bayern: Nichtraucherschutz, Hamburg: Schulreform – und sehr
bunte Proteste in Stuttgart. Es sind dafür sehr schnell Etiketten gefunden worden. „Die Dagegen-Republik“ hat ein großes Nachrichtenmagazin dazu gesagt. Aber ich frage Euch: Ist dagegen sein nicht der Anfang von vielem? Auch für viele von Euch war doch dagegen sein – mit Verlaub – der Anfang, sich politisch zu engagieren. Ich glaube, deswegen muss es darum gehen, aus dem Dagegen-sein ein Dafür-sein zu machen. Wo hätten wir das besser gesehen als bei der Begeisterung für die Kandidatur von Joachim
Gauck in diesem Jahr? Ich bin froh, dass Joachim Gauck nachher zu uns ein Grußwort sprechen wird, liebe Genossinnen und Genossen.

Natürlich sind viele dieser aktuellen Proteste ein Tritt gegen das Schienbein der Parteien. Aber das kann doch kein Grund für uns sein, diese Menschen nicht zu uns einzuladen und sie nicht zu beteiligen. Das wäre im Übrigen auch gegen unsere demokratische Tradition. Wir, die SPD, müssen wieder die Heimat sein für demokratisch engagierte Bürgerinnen und Bürger überall im Lande. Ich erinnere daran, dass die starke Zeit der Sozialdemokratie genau die Zeit war, in der sich das aktive und aufgeklärte
Bürgertum innerhalb der SPD engagiert hat. Nicht wahr, lieber Erhard Eppler? Schön, dass Du heute bei uns bist.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch Gesine Schwan begrüßen und ihr herzlich danken für das, was sie geschafft hat, nämlich die Mobilisierung und das Stärken des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern weit über die SPD hinaus. Herzlich willkommen, Gesine Schwan.

Manche werden vielleicht denken: Gut gesagt, Andrea, das mit der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Aber was ist denn mit Thilo Sarrazin? Wieso macht ihr denn ein Parteiordnungsverfahren gegen den? – Ja, Genossinnen und Genossen, wir wollen offen diskutieren. Ja, wir begrüßen unterschiedliche Meinungen, auch kritische. Aber wenn eine Partei ihre Grundwerte nicht mehr verteidigt, wird sie beliebig.

Es gibt einen Kern von Wertvorstellungen, die in der SPD nun einmal nicht zur Disposition stehen. Meinungsfreiheit: ja. Aber ein reaktionäres Menschenbild im Namen der SPD: Dazu sagen wir Nein. Das müssen wir auch, wenn wir uns selber ernst nehmen, liebe Genossinnen und Genossen.

Wir haben auf dem Weg, wieder die Bundesregierung zu stellen, schon einiges erreicht. Hättet Ihr Euch vor einem Jahr in Dresden vorstellen können, dass wir jetzt ernsthaft darüber reden, dass wir die Bundesregierung 2013 stellen können? Bei den Umfragen von Allensbach und im Rahmen des Polit-Barometers liegen wir mittlerweile bei 30 Prozent. Das ist noch lange nicht das, was wir wollen. Aber es ist schon mehr, als wir vor einem Jahr zu hoffen gewagt hätten. Viele sagen, dass es nur die Schwäche von
Schwarz-Gelb sei. Das mit der Schwäche möchte ich nicht bestreiten, wie könnte ich?

Aber ich behaupte, dass es auch unsere eigene Stärke ist. Die SPD ist wieder eine wachsende Kraft in Deutschland. Darauf müssen wir in den nächsten Monaten setzen.

Ich habe deswegen Zuversicht, weil wir eine Idee vom Fortschritt haben für unser Land. Deswegen interessieren sich auch wieder mehr Menschen für uns. Die SPD hat Fortschritt übrigens nie nur als materiellen Fortschritt verstanden, sondern sie hat Fortschritt als umfassenden Begriff verstanden. Mehr Geld ist vielen wichtig, liebe Genossinnen und Genossen. Aber anderes wird zunehmend wichtiger für die Menschen. Den Leuten fehlt zum Beispiel schlichtweg Zeit – Arbeitszeit und Lebenszeit. Hört Euch einmal
um bei Euren Kollegen und Freunden, das passt oft nicht mehr zusammen.

Deswegen haben wir Langzeitarbeitskonten und Elterngeld auf den Weg gebracht. Aber wir wollen mehr. Wie wäre es zum Beispiel, wenn beide Eltern in den Jahren, in denen sich Erziehung und Karriere knubbeln, weniger arbeiten, ohne davon Nachteile zu haben, und später dann wieder mehr? Ja, ich sage: beide Eltern, nicht nur Frauen. Das ist fortschrittliche Politik à la SPD, liebe Genossinnen und Genossen.

Ich sage auch: Fortschrittlich heißt, weiblicher zu werden.
Wir sind ja dabei, insbesondere in den letzten Monaten, mit unseren Shootingstars Hannelore Kraft und Manuela Schwesig. Aber ein bisschen mehr geht noch.

Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir es sind, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die endlich das überholte Modell, Mann arbeitet, Frau verdient ein wenig dazu, abschaffen. Wir haben lange genug Ehegatten gesplittet, liebe Genossinnen und Genossen.

Auch die jungen Menschen erwarten von der SPD fortschrittliche Lösungen. Die SPD kümmert sich um die, die schon in der Schule aufgeben. Aber wir kümmern uns auch um die Jungen, die ambitioniert und ehrgeizig sind. Wahr ist doch, dass in Deutschland auch diejenigen, die alles richtig machen gute Ausbildung, Auslandsaufenthalt , am Ende abgespeist werden mit unbezahlten Praktika, Kettenverträgen und anderen Sauereien. Das können wir und wollen wir nicht zulassen.

Deswegen haben wir das Verbot der sachgrundlosen Befristung oder die Bekämpfung des Missbrauchs der Leiharbeit heute in unserem Leitantrag. Aber das ist nur der erste Schritt. Ich denke, wir dürfen uns als SPD von keiner anderen Partei übertreffen lassen, um die Zukunftschancen der jungen Menschen in diesem Land zu sichern. Deswegen muss das ein Schwerpunkt der nächsten Jahre für unsere Arbeit werden, liebe Genossinnen und Genossen.

Fortschrittliche Politik, das ist Bürgerversicherung statt Zweiklassenmedizin, Mindestlohn durchsetzen mit den Gewerkschaften. Eine Bürgerinitiative für eine europäische Spekulationssteuer mit der SPÖ zu starten. Das ist fortschrittliche Politik. Aber es ist noch nicht alles geschafft. Deswegen meinen wir diesen Arbeitsparteitag heute sehr ernst. Wir wollen weiter wachsen. Deswegen lasst uns hart arbeiten, damit wir 2013 wieder da sind, wo wir hingehören, Genossinnen und Genossen, in die
Bundesregierung. Vielen Dank.

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